Tim Parks: Sex ist verboten

Sex ist verboten im Dasgupta-Institut, einem buddhistischen Meditationszentrum in England, in dem Vipassana gelehrt und praktiziert wird. Aber nicht nur Sex ist verboten. Reden ist verboten, Schreiben ist es. Singen. Rauchen. Der Kontakt von Männern und Frauen während des zehn Tage andauernden Retreats ist verboten. Selbst Paare dürfen in dieser Zeit nicht miteinander sprechen. Persönliche Habseligkeiten, Geld, Bücher, Telefon, Stifte, Handys, werden in einem Schließfach deponiert, im Speisesaal wird zwischen den Tischen der Männer und der Frauen eine Trennwand errichtet. Verboten, verboten, verboten …

In den ersten drei Tagen beobachten die Praktizierenden nur ihren Atem, die Konzentration liegt darauf, zu verfolgen, wie der Atem ein- und wieder ausströmt. In den darauf folgenden Tagen liegt die Sammlung auf der Betrachtung des Körpers. Die Teilnehmer tasten ihn mit ihrem Geist ab, vom Scheitel bis zu den Fußsohlen, begegnen den Empfindungen, die dabei auftauchen, versuchen, weder an den unangenehmen noch an den angenehmen zu haften.

 

Der in Italien lebende englische Schriftsteller Tim Parks wählt für seinen 2012 erschienenen Roman als Hauptperson eine junge Musikerin, die sich in das Institut zurückgezogen hat. Beth – Elisabeth - Marriot arbeitet als freiwillige Helferin in der Küche, leistet „Dhamma-Service“ im Verlaufe der Retreats. Um vier Uhr steht sie auf, beteiligt sich an der frühmorgendlichen Meditation und beginnt um sechs mit der Vorbereitung des Frühstücks. Seit Monaten hat sie das Grundstück nicht verlassen. Nach einem traumatischen Ereignis ist sie auf der Suche nach Ruhe und Frieden, den sie gefunden zu haben glaubt. Bis zu diesem Morgen. In einem der Männerzimmer hat sie beim Reinigen ein Tagebuch gefunden. „Ich las ein paar Worte und wusste sofort, dass der Typ in ernsthaften Schwierigkeiten steckte.“ (15) Sie nimmt die Hefte mit auf die Frauenseite, liest darin und bemerkt zu spät, dass sie einen Fehler gemacht hat: „Plötzlich waren alle alten Gedanken und Erinnerungen wieder da, sie schrien und brüllten und stampften mit den Füßen, und plötzlich fragte ich mich, ob mein ganzer langer Aufenthalt im Dasgupta-Institut nicht reine Zeitverschwendung gewesen ist.“ (16)

Es ist das geschriebene Wort, die Auseinandersetzung des Tagebuchschreibers mit seiner Vergangenheit, von der er auch während des zehntägigen Retreats nicht lassen kann, die Beth zurückwirft in ihre Geschichte und all ihre Bemühungen, Frieden zu finden, zunichtemachen wird. Dabei möchte sie werden wie Mi Nu Wai, eine der Meditationlehrerinnen des Instituts, eine, die durch ihre Erscheinung, ihr Auftreten, ihre Ruhe, ihre „Geisterhaftigkeit“ (26) das Versprechen, das mit der meditativen Bemühung einhergeht, eingelöst zu haben scheint. „Die Luft ist ein Heiligenschein für Mi Nu. Sie ist ein Lichtkegel. Sie ist ein Kegel aus weißem Licht, sie konzentriert den Raum um ihre Stille.“ (27) Diese – vermeintlich – erleuchtete Frau wird allein durch die Schilderung Beths lebendig, diesem großen Ego, dessen innerer Monolog eine der beiden Stimmen ist, die Tim Parks in diesem Roman aufruft. Es ist die u. a. durch James Joyce und Virginia Woolfs Romane erprobte Methode des Bewusstseinsstroms, die Tim Parks als Erzählform wählt. Durchbrochen werden die unausgesetzten Betrachtungen und Assoziationen Beths allein durch Unterhaltungen mit anderen Dhamma-Helfern oder den Meditationsleitern und vor allem durch die zweite Stimme in diesem Roman: die des Tagebuchschreibers.

„Wer schert sich schon um kranke Männer und ihre Tagebücher? Wer braucht solche Geschichten von Leid und Elend? Mi Nu hat gar keine Geschichte. Sie ist wie ein Strom der Stille. Nicht wie die durchgeknallte Zoe, die Pillen schluckt und jede Menge Liebhaber hat.“ (28) In diesem Satz ist das Thema des Romans zusammengefasst: Wie lassen sich Elend und Leid des Individuums, die letztlich nichts anderes sind als Geschichten von Elend und Leid, transformieren in und durch eine Erfahrung, in der alle Geschichten zu einem Ende kommen, in der nur noch Stille ist und Frieden? In der erkannt wird, dass das Selbst nur eine Illusion ist? Trügerisch in seinem Sein, erfinderisch in seinem Auftreten und prädestiniert, Leiden zu verursachen.

Der Geist springt, wohin er will. In wilden Assoziationsschleifen erschafft er Sekunde auf Sekunde eine neue Welt, die aus dem Nichts auftaucht und wieder im Nichts verschwindet. Ein Karussell aus Erinnerungsbildern, Zukunftserwartungen, Ängsten, Sorgen, Plänen, Vorhaltungen, Sehnsüchten, Begierden. Nichts von dem ist wahr. Das Vergangene ist vergangen, das Zukünftige eine Projektion, der gegenwärtige Augenblick eine Millisekunde des Hörens, Sehens, Riechens, Schmeckens – schon vorbei, kaum dass es wahrgenommen wurde. Dieser „Affengeist“ hat uns fest im Griff, am Tag, an dem wir unser Leben im Wachbewusstsein „träumen“, in der Nacht, wenn unser Unterbewusstsein symbolhafte Kathedralen aus Bildern errichtet, die wir „Träume“ nennen. Tatsächlich aber träumen wir auch während des Tages, wenn wir uns in der Vergangenheit verlieren und über verpasste Gelegenheiten nachgrübeln oder an die Zukunft denken und uns fürchten vor Alter, Krankheit, Tod – oder uns freuen auf einen geliebten Menschen, eine Reise, die Geburt eines Kindes. Doch all dies sind nur Fantasien, die unser nimmermüdes Zentralorgan, unser Gehirn, in unablässiger Arbeit hervorbringt: Träume, Simulationen des Lebens.

Der Buddha ist der Erwachte. Er ist erwacht aus dem Traum des Lebens und hat erkannt: Da ist nichts. Alle Dinge sind in Wahrheit leer. Und: Der Geist erschafft ein Ich – auch das nur eine nicht inhärent existierende Konstruktion des Geistes -, das wiederum eine Welt hervorbringt, von der es glaubt, es sei eine objektive, von ihm getrennte, dabei ist sie nichts anderes als die Hervorbringung seines Geistes, eine Projektion. Illusion. Simulation. Es gibt keine objektive Welt außerhalb des Geistes. Was wir die Wirklichkeit nennen, ist eine perfekte Täuschung. Aus dem Traum zu erwachen, diese Illusion hinter sich zu bringen, heißt: erwachen. Frei zu sein.

Das ist das große Versprechen. Aus diesem Grund machen sich leidgeplagte Männer und Frauen auf ins Dasgupta-Institut und üben sich in der Vipassana-Meditation, betrachten Tag für Tag nur die Bewegung ihres Atems, einatmend, wie er durch die Nasenlöcher strömt, ausatmend, wie er wieder austritt. So sitzen sie auf einem Meditationskissen, Stunde um Stunde mit schmerzenden Knien und Rücken und erwarten, dass sie erwachen, dass ihr „Affengeist“ still wird, zumindest das. Dass sie erkennen, dass sie von einer Chimäre, genannt Ich oder Selbst, heimgesucht werden, die gar nicht existiert.

„Sex ist verboten“ ist gewissermaßen die literarische Umsetzung der Erfahrungen, die Tim Parks in „Die Kunst stillzusitzen – Ein Skeptiker auf der Suche nach Gesundheit und Heilung“ beschrieben hat. (erschienen bei: Verlag Antje Kunstmann GmbH, München 2010)

Tim Parks berichtet in diesem Buch über seinen Kampf gegen unerträgliche Schmerzen und Beschwerden mit der Prostata und kommt durch einen Hinweis seines Shiatsu-Therapeuten zu seinem ersten Schweige-Retreat. Der Shiatsu-Lehrer rät ihm, „das Retreat als rein körperliche Therapie zu betrachten.“ (Die Kunst stillzusitzen, 250) Was Parks erfährt, ist eben jene Form der Vipassana-Meditation, die in „Sex ist verboten“ beschrieben wird. Der Affengeist. Natürlich: Tim Parks ist Schriftsteller. Seine Erfahrungen werden zu Literatur. Und das ist gut so, möchte ich sagen, denn sowohl „Die Kunst stillzusitzen“ als auch „Sex ist verboten“ sind eine lohnenswerte Lektüre, wobei es sich tatsächlich empfiehlt, zunächst „Die Kunst stillzusitzen“ zu lesen und danach „Sex ist verboten“. Der Schriftsteller hört nicht auf, Geschichten zu erzählen, literarische Illusionen, obwohl er weiß, dass er die Taschenspielertricks des Ego höchst subtil kultiviert und auf den Markt bringt. Tim Parks erkennt: „Aber während die Worte und die Gedanken sich aus dem Kopf verflüchtigen, wird das Ich schwächer. Es gibt keine Geschichte, die es nährt. Wenn die Wörter verschwinden, ist es gleichgültig, ob man in Verona oder Varanasi ist. Ob es Abend oder Morgen ist, ob man jung oder alt ist, Mann oder Frau, arm oder reich ist, in der Stille, im Dunkeln, in der Ruhe nicht so wichtig. Ebenso wie Geister, Engel oder Götter ist das ´Ich`, so stellt sich heraus, eine Einbildung, eine Geschichte, die wir uns selbst erzählen. Es braucht die Sprache, um zu überleben. Die Wörter erzeugen Bedeutung, die Bedeutung Absicht, die Absicht Geschichte. Aber hier gibt es für eine kurze Weile keine Geschichte, keine Erzählung, keine Täuschung. Hier gibt es Stille und Hinnahme; die Wonne eines Raumes, der nicht mit Bedeutung gefüllt werden muss. Wenn das Bewusstsein achtsam ist, den Leib, den Atem, das Blut ganz wahrnimmt, erlaubt es dem Ich, sich davonzuschleichen.“ (Die Kunst stillzusitzen, 363)

Eine interessante Passage, denn hier stehen Erkenntnis und Sehnsucht nach Ich-Auflösung auf der einen Seite und Selbstrechtfertigung des Schriftsteller-Ichs – „Es braucht die Sprache, um zu überleben“ – auf der anderen Seite in einem Verhältnis, dass es Tim Parks erlaubt, nach dem einen zu streben, ohne das andere ganz aufgeben zu müssen. Der Schriftsteller erzählt die Geschichten des Ego/der Egos. Ohne diese Geschichten könnte er nicht sein. Schließlich ist das sein Beruf. Zu erwachen bedeutet auch, diesen Geschichten keine Beachtung mehr schenken zu müssen, weder den eigenen noch denen der anderen. Das macht Tim Parks aber nicht, obwohl er in „Die Kunst stillzusitzen“ tatsächlich davon spricht, das Schreiben aufzugeben: „In den nächsten vier Tagen fasste ich den Entschluss, mit dem Schreiben aufzuhören.“ (Die Kunst stillzusitzen, 296) Und: „Da hatte ich das Gefühl, eine unwiderrufliche Veränderung in meinem Leben nur erzwingen zu können, wenn ich mich von dem Projekt lossagte, das mich seit ich denken kann, angespornt, aufgerieben und krank gemacht hat: DAS PROJEKT DER WORTE.“ (298)

Nein – er gibt das „Projekt der Worte“ nicht auf. Und so ist aus seiner Geschichte der Bemühungen um Ichlosigkeit im Rahmen mehrerer, vermutlich vieler Vipassana-Retreats „Sex ist verboten“ entstanden, der Roman, in dem er höchst aufschlussreich darstellt, wie der Geist funktioniert, wie er Schmerz und – folgt dem ersten Pfeil noch der zweite – Leid verursacht.

„Das ganze Leben ist dukkha. Leid und Unzufriedenheit.“ (30 f.) Schon zu Beginn von „Sex ist verboten“ wird angedeutet, was Beth ins Dasgupta-Institut gebracht hat. „EIN BADEUNFALL, JONNIE. ICH LIEGE AUF DER INTENSIVSTATION.“ (30) Was diesen Unfall verursacht hat, welche Hintergründe es gibt, wird jedoch zunächst nicht weiter ausgeführt. Kann es auch nicht, denn es ist ja gerade dieses Ereignis, das Beth bewältigt zu haben glaubt, mit dem sie sich nicht auseinandersetzen will, weil es zu viele schmerzhafte Erinnerungen heraufbeschwört. Deshalb ermahnt sie sich: „Halt. Atme.“ (30) Je intensiver sie sich jedoch auf die Tagebucheinträge des Retreat-Teilnehmers einlässt, umso stärker werden die Erinnerungen an das tragische Geschehen.

Beths Geist springt von einem Ereignis, das in der Vergangenheit liegt, zum anderen, versucht sich auf das zu konzentrieren, was unmittelbar ansteht, findet aber dann doch wieder zurück zum Bild eines Band-Kollegen, eines Liebhabers: „Wenn das Becken verstopft ist, greift er hinein und holt für mich den Dreck heraus. Ich spritze ihm den Ärmel nass und er schreit auf. Ich lache ihn offen an. Unser Geist ist nicht stark genug, um das richtige Verhältnis zu gewissen Dingen zu haben. Was Harper sagt, stimmt. Aber bei Ralph habe ich kein Problem. Ich könnte diesen Jungen ewig necken, ohne Gefühle zu entwickeln. „Du hast tolle Zähne, Beth!“, sagte Jonathan. „Sie sind wahnsinnig. Riesig.“ Carl wollte, dass ich eine Zahnspange trage. Er meinte, sonst würde ich später Schwierigkeiten bekommen.“ (63 f.)

Ralph ist wie Beth im Dhamma-Service tätig. Harper ist einer der Leiter des Institutes. Carl ist Gitarrist der Band, mit der Beth aufgetreten ist und mit dem sie ein Verhältnis hatte. Jonathan schließlich ist ein Maler, mit dem sie intensiv Sex hatte, den sie liebt. Mit jedem Satz öffnet sich eine andere Tür, hinter der eine Erinnerung lauert. Alles ist aufeinander bezogen, hat miteinander zu tun. Tatsächlich ist unser Geist wohl noch sprunghafter, als Tim Parks das in seinem Roman ausdrücken kann. Durch die Bewusstseinsstrom-Technik gelingt es ihm indes, nicht nur Beths Welt transparent zu machen und die Art und Weise darzustellen, wie launenhaft und willkürlich Gedanken und Gefühle sind, sondern er verdeutlicht auch, dass alles mit allem verbunden ist, dass alles in allem enthalten ist.

Doch Beth findet keine Ruhe in sich. Sie möchte sein wie Mi Nu, möchte Frieden, gleichzeitig unternimmt sie alles, um diese Absicht zu sabotieren: Sie liest die Briefe des Teilnehmers. Sie raucht. Sie spielt mir ihrer sexuellen Attraktivität. „Mi Nu sitzt vollkommen still auf ihrem Podium. Es geht eindeutig ein Licht von ihren Wangen und von ihrer Stirn aus. Sie wird von ihrer Stille erleuchtet. (…) Dass mir dieser Brief wehtut, sollte ein Alarmsignal sein. Ich spüre die Worte in meinen Knöcheln. Bleib weg von diesem Mann. Bleib im Dasgupta-Institut. (...) Du bist hergekommen, damit du dich nicht umbringst. Dann sei gefälligst auch hier, Mr. Tagebuchschreiber.“ (78)

Nicht in der Vergangenheit zu sein, sondern in der Gegenwart, in der es keine Konflikte gibt, darum geht es. „Du bist jetzt in der Gegenwart, Beth. Nicht in der Vergangenheit. In der Gegenwart, in der es keine Konflikte gibt. Hier in der Meditationshalle gibt es keine Entscheidungen. Alle Erinnerungen, alle Pläne sind Schall und Rauch. Dein Tagebuchschreiben ist Schall und Rauch. (…) Schall und Rauch die Nacht am Strand, die Nacht am Strand. Philippe. Hervé. Die Schreie. Die Brandung.

Trotz all der Mordgeschichten? Du lieber Himmel.“ (81)

Doch da ist das Begehren als der Ursprung allen Leidens. Die Zweite Edle Wahrheit des Buddha. Begehren: Das führt mitten hinein in Beths Leben, so wie es war, bevor sie ins Dasgupta-Institut gekommen ist: „Ich habe einen Mann begehrt, der mich nicht begehrt hat. Mit dem Verlangen nach Erfolg konnte ich umgehen. Pocus hätte den Durchbruch schon geschafft, eines Tages. Ganz sicher. Ich konnte auch damit umgehen, begehrt zu werden, ohne zu begehren. Das war schmeichelhaft. Es machte Spaß. Meine Freunde waren sehr beeindruckt von Carl. Er sah so gut aus und war so verliebt. In mich!

„Hast du ein Glück!“, sagte Zoe seufzend. „Wieso um alles in der Welt vögelst du in der Welt rum, wenn du einen wie ihn haben kannst?“

Weil ich Jonathan begehrte. Der mich nicht begehrte, der niemanden begehrte, der kein Begehren kannte.“ (93)

Während einer Videoansprache erzählt Dasgupta eine Geschichte, die das Problem von Anhaftungen und Begierden erläutern soll: In einer indischen Stadt stirbt zur Zeit des Buddha das Baby einer Frau. Die Frau will das nicht akzeptieren, sie will, dass das Kind lebt. Sie geht zu Ärzten, die ihr natürlich nicht helfen können. Dann bekommt sie den Rat, den Buddha aufzusuchen. Der Buddha fordert sie auf, in die Stadt zu gehen und drei Samenkörner aus einem Haus zu holen, in dem noch nie jemand gestorben ist. Das gelingt nicht, und die Frau versteht, dass der Tod universell ist, dass es keinen Haushalt gibt, in dem noch nie jemand gestorben ist. Beth hört sich diesen Vortrag an: „Ich bin hier, um diese Geschichte an mir auszuprobieren, wurde mir klar. Um festzustellen, was ich aushalten kann. Ich wollte den Stich spüren und zusehen, wie das Blut fließt.“ (137) Tatsächlich öffnen sich die Tore der Erinnerung und die Bilder strömen auf sie ein: Sie liegt im Krankenhaus auf der Intensivstation, weil sie beinahe ertrunken wäre. Sie schreibt SMS an ihren Geliebten, der zu diesem Zeitpunkt in den USA ist. Was Jonathan nicht weiß: Beth war schwanger von ihm. Sie hat in den Fluten des Atlantiks ihr Baby verloren. Beth ist von dem inneren Erleben so aufgewühlt, dass sie den Leitern des Institutes mitteilt, dass sie den Dhamma-Service aufgibt. Ihr Fehlverhalten, nämlich das Lesen des Tagebuchs eines Gastes, das Beth wohl auch als solches begreift, wirft sie jedoch aus der Bahn, denn der Tagebuchschreiber erinnert sie an Jonathan, erinnert sie daran, „wer ich mit Jonathan war.“ (147)

Nun ist sie wieder da, wo sie in den ersten Tagen ihres Aufenthaltes gewesen ist. „Du bist ins Dasgupta-Institut gekommen, um zu vergessen, und du dachtest, du hättest vergessen. Du dachtest, du wärst geheilt. Dann hast du plötzlich alles wieder ausgegraben. Vielleicht musstest du nachsehen, was es war, was du vergessen hattest.“ (144) Sie setzt alles Bemühen in die Meditation, ist vor den ersten Teilnehmern in der Meditationshalle und geht als letzte.

„Als ich sein Tagebuch las, bin ich wieder Beth geworden. Als ich an seinen Kleidern gerochen habe, fühlte ich mich ganz stark wie Beth. Beth muss sich hingeben. Beth muss sterben. (…) Ich habe alles Gelassenheit verloren. Ich bin erledigt. Fix und fertig. Mein Rücken bringt mich um. Mein Kopf droht zu platzen, platzen, platzen.“ (147)

Die intensive Meditation indes bringt ihr nicht den Frieden, nach dem sie sich sehnt. „Ich bin heute Morgen die Erste in der Meditationshalle. Ich liebe es, die Erste zu sein. Die Halle gehört mir ganz allein. (…) Ich wate durch die Wellen. „Beth, es ist zu dunkel!“ In der Stille ist Carls Stimme lauter. Wenn ich das Meer höre, höre ich Carls Stimme, höre ich meinen Namen. „Beth!“ Und die Stimmen der französischen Jungs, die rufen: „Komm, geh mit uns schwimmen, Beth. Komm, wir schwimmen nackt.” (149)

Nie hat Beth es bereut, mit einem Mann oder einer Frau geschlafen zu haben. Doch jetzt, in dieser frühmorgendlichen Stunde ist die Reue da: „Ich habe es noch nie bereut, jemanden gefickt zu haben. Nein, stimmt nicht. Ich bereue es jetzt. Jetzt bereue ich es. Ich bereue, Ja gesagt zu haben. Zu jedem, zu dem ich Ja gesagt habe. Ich bereue Carl. Wirklich. Ganz ehrlich. Ich bereue Jonathan. Ich bereue ihn von ganzem Herzen. Und all die anderen. Alle anderen. All die Betrügereien. Ich bereue sie wirklich und ehrlich.“ (151)

Was geschehen ist, ist geschehen. Es gibt keine Möglichkeit, das Vergangene zu ändern. „Wenn du betrogen und einem Geliebten das Herz gebrochen hast, dann hast du betrogen und einem Geliebten das Herz gebrochen. Es gibt kein Heilmittel. Wenn du betrogen wurdest und dein eigenes Herz wurde gebrochen, dann wurdest du betrogen und dein eigenes Herz ist gebrochen. Du bekommst es nicht zurück. Wenn du getötet hast, dann hast du getötet. Es gibt keine Hilfe. Sitze still und schweige.

Die Welt, wie sie ist, wie sie ist.“ (155)

Alle Anstrengungen, die Beth in den vergangenen Monaten unternommen hat, um die Freiheit und den Frieden zu erreichen, nach dem sie sich sehnt, waren erfolglos, so glaubt sie. „Ich habe annica am eigenen Leib erfahren, den ständigen Wandel, den ständigen Fluss, in dem jedes Atom von Geist und Materie entsteht und vergeht, entsteht und vergeht. Es hat mir keine Weisheit gebracht. Ich habe gespürt, wie mein Körper mit der Luft verschmilzt. (…) Aber es hat mir keinen Frieden gebracht. Ich bin in das Summen einer Hummel verfallen, die von Blüte zu Blüte taumelt. Aber ich bin nicht geheilt.“ (163) Weisheit. Frieden. Nirwana. All das scheint vor ihr zu fliehen. Die Dinge erweisen sich wieder als fest und voller Substanz, sie erfährt sich selbst als „habgierig und zweckorientiert“. Die Vergangenheit drängt sich in den Vordergrund: „ „Ich habe Carl Leid zugefügt. Ein großes Unrecht. Ich habe ihm erzählt, dass ich schwanger bin, um mich abzusichern. Es war nicht sein Kind.“ (164)

Am Ende des siebten Tages beginnt Beth, zu schreiben. „Ich kann das Dasgupta-Institut weder verlassen noch hierbleiben. Also schreibe ich. Schreiben ist ein Zwischending. Zwischen tun und nicht tun. Schreiben ist Unentschiedenheit, Träumerei. Ein Tagebuch anstelle eines Lebens. Schreiben wir mal auf, was passiert, wenn er Ja sagt. Ich heiße Elisabeth, aber meine Liebhaber nennen mich Beth. Der Tagebuchschreiber lacht.“ (177)

Eine unglückliche Situation, wie ich finde, denn hier scheint der Schriftsteller Tim Parks in weit stärkerem Maße die Kontrolle über seine Hauptfigur zu übernehmen, als das in der bisherigen Schilderung der Fall gewesen ist. Bisher erlebte der Leser Beth als eine von den Dämonen der Vergangenheit geplagte Figur, die sich nach Frieden sehnt. Sie ist fasziniert von den Möglichkeiten, die die meditative Versenkung bereithält, ist jedoch frustriert von dem, was sie „erreicht“ hat. Nun nimmt sie Zuflucht zum Schreiben. Warum? „Wenn ich jetzt schreibe, dann, weil es nicht funktioniert. Die Meditation funktioniert nicht. Oder ich funktioniere nicht, ich arbeite nicht hart genug an der Meditation. Nichts funktioniert. Der siebte Tag ist vorbei. Du hast noch drei Tage zum Schreiben.“ (178)

Schreiben und meditieren. Mit diesem Problem plagt sich Tim Parks auch während eines Vipassana-Retreats herum. Er will das Schreiben aufgeben, weil es sich nicht mit den meditativen Bemühungen in Einklang bringen lässt. Er will sich zu einem 15-minütigen Treffen mit dem Leiter des Retreats, Coleman, treffen, aber nur, um dann gegebenenfalls später darüber zu schreiben – obwohl er ja gar nicht mehr schreiben will. „Der einzige Grund für mich, Coleman zu treffen, wäre Neugier, was in meinem Fall bedeutete, ein interessantes Gespräch zu führen, das ich später in irgendeinem Buch verwenden konnte. Oder in einem Artikel. (…)

Aber wenn du nicht mehr schreiben willst, wozu dann Sachen sammeln, über die du schreiben kannst? Tu es nicht.“ (Die Kunst stillzusitzen, 313)

Schreiben ist für Tim Parks das Medium, um sich mit der Frage auseinanderzusetzen, die auch Beth umtreibt: Meditation funktioniert nicht. Sie führt zu einigen eindrucksvollen Erlebnissen, aber sie bringt nicht die Freiheit, nach der sich sowohl der Autor als auch seine Figur sehnen. Es hätte jedoch der Figur gut getan, wenn der Autor ihr nicht den Stift in die Hand gegeben und sie so zumindest teilweise zu seinem Alter Ego gemacht hätte. Viel besser ist das Autoren-Ich bei dem „Tagebuchschreiber“ aufgehoben, der akribisch all die Kritik an der Vipassana-Meditation notiert, die auch Parks umgetrieben haben mag.

Die authentische Beth tritt tatsächlich unmittelbar nach dieser Szene wieder in Aktion, indem sie ein erotisches Spiel mit dem Dhamma-Helfer Ralph zu spielen beginnt. Sex ist verboten, aber: „Ich senkte meinen Mund bis zu seinem Ohr, bis an seinen hübschen kleinen silbernen Ohrring. Es ist ein winziger Buddha.

„Willst du einen Kuss?“

Sein Körper zittert. Wahnsinn. Er zitterte und verspannte sich tatsächlich.“ (180) Beth spielt mit Ralphs Verlangen, seiner Erregung, um sich dann plötzlich zu entziehen und zu verschwinden. Später gelingt es ihr sogar, die so reservierte Mrs. Harper dazu zu bewegen, gegen die Regeln zu verstoßen: „Umarmen Sie mich.“

Ich trat auf sie zu. Der Tropfen war inzwischen bis zum Knie gelaufen.

„Bitte, Mrs. Harper. Es ist so lange her. Umarmen Sie mich ganz fest.“

Als unsere Körper sich fast berühren, öffnete sie ihre Arme. Ich konnte bereits spüren, was für eine warme, weiche, mütterliche Umarmung es sein würde. Als ihre Hände sich um mich schlossen, entwand ich mich und rannte weg.“ (250)

Sex ist verboten im Dasgupta-Institut, und das ist für Beth offenbar eine der größten Herausforderungen. Sex war für sie ein wesentlicher Bestandteil des Lebens, vielleicht das Wichtigste überhaupt. „Wir saßen auf einer Bank, mit dem Rücken an die nackte Ziegelwand gelehnt. (…) Ab und zu küsste Carl mich aufs Haar und flüsterte mir den Text des Songs ins Ohr. Und während er mich umarmte, lächelte ich Jonathan zu, der mir schräg gegenübersaß, während Zoe, die neben mir saß, unter dem Tisch meine Waden zwischen ihren Füßen rieb. Sie hatte die Schuhe ausgezogen. Zoe wusste über mich und Jonathan Bescheid, aber die beiden Männer wussten nicht von mir und ihr. Sie konnten unsere verschränkten Beine nicht sehen (…) Irgendwann flüsterte Zoe sich zu mir herüber und flüsterte grinsend: „Hure!“ Ich war im siebten Himmel.

Hinterher schlief ich mit Carl und dachte dabei an Jonathan und Zoe. Ich war dankbar dankbar dankbar.“ (254)

Aus dem siebten Himmel in die Hölle. Dieses vielgestaltige Beziehungsgeflecht führt dazu, dass sie von dem Mann schwanger wird, den sie liebt, von dem sie aber annimmt, dass er nicht das gleiche für sie empfindet. Es führt dazu, dass sie mit Carl, der wiederum sie liebt, in Urlaub fährt und in eine ausweglose Situation gerät, aus der sie sich durch einen Suizid zu „retten“ versucht. Die Konsequenz ist, dass sie ihr Baby verliert.

Sex ist verboten im Dasgupta-Institut, denn ohne Moral, ohne die fünf Sittlichkeitsregeln gibt es keine Erleuchtung. Warum nicht? „Weil der Geist ohne Tugend gespalten und gestört ist, ohne sila kann der Geist nicht ruhig werden, sich nicht sammeln. Darum haben Mönche einen großen Vorteil auf dem Pfad des Dhamma. In einem Kloster ist es leicht, sila zu bewahren. Dort gibt es keine Versuchung. Es ist leicht, für einen Mönch, unheilsame Handlungen zu vermeiden.“ (255)

Beth sehnt sich nach Erleuchtung, aber „ich verletze auch gern die Regeln, verletze sila. Ich bin froh, dass ich Ralph geküsst habe, froh, dass ich die Zigaretten geraucht habe. Ich bin froh, dass ich in das Schlafzimmer meines Tagebuchschreibers eingedrungen bin. Ich bin froh, dass ich Mrs. Harper dazu gebracht habe, mich zu umarmen. Ich wette, ich könnte Meredith dazu bringen, mit mir ins Bett zu gehen, wenn ich es wirklich darauf anlegen würde. Das Mädchen hat etwas Gieriges an sich. Ich bereue alle meine Betrügereien. Durch sie ist mein Leben der reinste Irrsinn geworden. Aber es war toll, drei Liebhaber zugleich an meinem Tisch zu haben.“ (255 f.) Sie bereut. Und bereut doch nicht. In einer letzten großen Anstrengung versucht sie eine Entscheidung, eine Lösung, ein Ereignis herbeizuführen, indem sie ohne Unterbrechung Stunde um Stunde meditiert: „Elf Stunden. Also was nun? Zurück in die Meditationshalle, weitermachen. Bis an die Grenze gehen. Das erschien mir der einzige Weg zu sein. Entweder ich konnte eine riesige Veränderung in meinem Kopf herbeiführen, oder ich verließ das Dasgupta-Institut und stürzte mich wieder ins Leben. So oder so, ich musste dafür sorgen, dass etwas passiert.“ (261)

Die Teilnehmer am Retreat kommen und gehen, Stunde um Stunde vergeht, während Beth sitzt und meditiert, die Erinnerung sie bedrängt und sie darunter zu zerbrechen droht. Doch dann: „Schließlich verblassen die Worte. Die Worte, die Erinnerungen. Jetzt sind nur noch die Schmerzen in meinen Rippen präsent. Ich habe diese Schmerzen schon öfter gehabt. Auf der linken Seite. In meinem Brustkorb steckt eine Hand, die mein Herz zerdrückt.“ (281) Der Schmerz wird größer: „Er ist enorm und fürchterlich präsent. Er ist schwarz. Ich weiß, dass er schwarz ist. Ein schwarzer Fels.“ (281) Dieser riesige Fels, dieser Schmerz beginnt, sich zu bewegen, während Beth auf dem Meditationskissen ausharrt. Er schiebt sich durch ihren Körper, in den Kopf hinein, hinter das Auge. Und dann ist es plötzlich vorbei. „Eine plötzliche, schnelle Entleerung, Befreiung. Vorbei. Der Schmerz rauscht durch die Augenhöhle nach draußen. Verpufft. Alles ist wieder gut.“ (282 f.) Dann: „Stille. Endlich nur Stille in der Meditationshalle. Es ist Mitternacht. Genau jetzt. (…) Die Stille wird tiefer. Sie ist wie ein sanfter Atem auf dunklem Wasser. Wunderschön. Noch nie habe ich eine solche Stille erlebt. Der Geist schwebt in der Stille, in der Leere, wie Federn auf einem dunklen See. Er ist riesig und still und vollkommen leer, wunderbar leer.

Gott.“ (283)

Der Erkenntnis folgt indes sofort die Selbstanklage. Beth öffnet die Augen und fragt sich, warum sie das gemacht hat. „Mein Atem ging sachte und leicht. Ich hatte den Schmerz hinausgeleitet. Ich hatte mich bis an meine Grenzen getrieben. Und dann, als alles perfekt war, hatte ich einen Rückzieher gemacht.

Ich hatte schon wieder versagt, hatte mich nicht an den Plan gehalten.“ (283)

Ihr Weg führt sie mitten in der Nacht in den Bungalow von Min Nu. „Ich zog mein T-Shirt und mein Oberteil, die Jeans und die Unterhose aus. Ich ließ meine Kleidung zu Boden fallen. (…) Ich hob die Decke hoch und schlüpfte darunter. Du bist skrupellos, Beth, total skrupellos. Sie würde aufwachen, total erschrocken. Dann würde sie mich rauswerfen. Aber ich musste einfach bei ihr sein.“ (286) Da ist immer noch die eine Frage, die Beth Mi Nu stellen will. Die eine Frage, die sie im Verlaufe der vergangenen Tage nicht einmal formulieren konnte. Aber auch jetzt ist sie nicht in der Lage, Mi Nu „eine tiefsinnige Frage zu stellen, eine, die meine Anwesenheit rechtfertigen würde. Mir fiel nichts ein.“ (288) Dann, nach einer Weile, stellt sie diese Frage doch: „Ich möchte sein wie du, Mi Nu. Das wollte ich dich fragen. Wie kann ich werden wie du?“ (290) Mi Nu indes bleibt gelassen und ruhig, während Beth ihr von dem Drama berichtet, das sich in ihrem Leben ereignet hat: „Ich war schwanger und habe dafür gesorgt, dass das Baby stirbt. Ich habe es mit Absicht gemacht. Ich habe versucht, mich zu ertränken, mich und das Baby umzubringen. Stattdessen ist ein anderer gestorben, weil er mich retten wollte.“ (291) Hier, nahezu am Ende des Buches, wird zum ersten Mal mit aller Klarheit ausgedrückt, was geschehen ist. Das „wilde Leben“ Beths führte zu einer so großen Verzweiflung, dass sie sich und das Kind, das sie in sich trug, umbringen wollte. Das Kind ist gestorben, einer der Jungen, die mit ihr im Wasser waren, ist umgekommen. Aus einem Gefühl der Ausweglosigkeit ist sie in die tosenden Wellen des Atlantiks gesprungen, weil Jonathan, der Mann, den sie liebte, sie vermeintlich nicht liebte. „Ich kam mir vor, als wäre ich überhaupt nichts wert.“ (292)

Der zehnte Tag. Das Retreat ist zu Ende. Die Edle Stille ist aufgehoben, und die Teilnehmer beginnen, sich über ihre Erfahrungen auszutauschen. Beth hat auf die Frage, ob sie bleiben oder das Institut verlassen soll, noch keine Antwort. Neun Monate hat sie im Dasgupta-Institut verbracht, aber eine Entscheidung kann sie nicht treffen: „Ich war ganz ruhig. Ich fühlte mich vollkommen ruhig. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun würde, nicht mal in den nächsten Stunden, ob ich bleiben oder weggehen würde.“ (305)

Als sie ihr Schließfach öffnet, nach neun Monaten, ihr Handy herausholt und ihre Mutter anruft, erfährt sie, dass sie nach 31 Jahren Ehe von ihrem Mann verlassen worden ist. Nun ist klar, wohin Beths Weg führen wird: zu ihrer Mutter. „Um halb acht war ich weg. Ohne Abschiede. Ich ging in mein Zimmer, stopfte meine Klamotten in meinen Rucksack und machte mich auf den Weg.“ (322) Der Tagebuchschreiber, der sich entschlossen hat, für eine Zeitlang im Institut zu bleiben, bringt Beth mit dem Auto nach London. Auf seine Frage, warum sie nach neun Monaten das Institut verlässt, antwortet sie: „Wegen deines Tagebuchs.“ (328) „Es hat mich an Sex erinnert.“

„Sex? Ich wüsste nicht, dass ich etwas über Sex geschrieben hätte.“

„Es hat mich daran erinnert, wie aufregend es ist, sich Sorgen zu machen und Entscheidungen treffen zu müssen. Das gibt es nicht im Dasgupta-Institut.“

„Das ist doch kein Sex.“

„Es fühlt sich an wie Sex.“ (330)

In diesen Worten scheint sich die vollkommene Inkompatibilität von buddhistischer Erlösungsphilosopie und westlichem Ego-Bewusstsein auszudrücken, eine Inkompatibilität, die der Roman von Anfang an aufzuzeigen versuchte. Es ist aufregend, sich Sorgen zu machen und Entscheidungen treffen zu müssen, sagt Beth. Es ist wie Sex. Wer ist es, der all das aufregend findet? Ein konstruiertes Selbst, das durch diese Aufregung, durch die Dramen, die Beth erfahren hat, Nahrung findet und sich aufplustern kann: Gott Ego! Befreiung von Verlangen und Leid, das Kultivieren von Achtsamkeit, Gleichmut, das Beobachten des Flusses der Empfindungen, die Bemühungen in den vergangenen zehn Tagen – was sind das nun anders als Worte, die von einem Ego, das das Leiden will, weil es sich davon ernährt, weil das Leiden es auf den Thron setzt, wie Tennisbälle zurückgeschlagen werden. Beth und der Tagebuchschreiben gehen zurück in ihr Leben, in dem Leiden nicht verboten ist, sondern konstitutiv. Fiele es weg, wäre Freiheit, wäre Frieden, aber – wäre das auszuhalten? Die Gesellschaft, in der Beth und der Tagebuchschreiber zuhause sind, fürchtet nichts so sehr wie den freien, nicht-wollenden Menschen. Denn in der Haben-Gesellschaft ist die (Illusion von) Freiheit allein über den Konsum zu realisieren. Dass viele, viele Menschen von einer Sehnsucht nach wahrhafter Freiheit getrieben sind, einer Freiheit, die sich nicht kaufen lässt, macht den Buddhismus in seinen vielfältigen Erscheinungsformen so attraktiv. Wie mühsam es indes ist, diesen Weg zu beschreiten und ihn zu vollenden, macht Tim Parks Roman deutlich. Eine „Instant-Erleuchtung“ ist innerhalb eines Zehn-Tage-Retreats kaum zu erwarten.

 

Die zweite Stimme in diesem Roman, der Bedeutung zukommt, ist die des Tagebuchschreibers. Eigentlich hat Beth in den Räumen der männlichen Teilnehmer nichts zu suchen. Eigentlich. Sie betritt das Einzelzimmer und findet das Tagebuch. „Ich nahm eins der Hefte mit auf die Frauenseite. Ziemlich unklug. Als die anderen heute Morgen in der Halle waren, las ich es. Ich meine, ich blätterte es durch.“ (16)

Mit Geoff Hall, dem Tagebuchschreiber, hat Tim Parks eine Figur geschaffen, die es ihm erlaubt, Erfahrungen mit der Vipassana-Meditation wiederzugeben. „Mein Tagebuchschreiber wünscht, er wäre nicht gekommen. Er ist wütend. Er verabscheut die Abendvideos, die Vorträge von Dasgupta. Er kann nicht stillsitzen. Seine Beine und sein Rücken bringen ihn um.

Neunzig Minuten. Und der Mann ist so verdammt selbstgefällig. Als wären wir in einem Rotary-Club in Bombay in den Sechzigern.“ (43)

Ähnlich lautende Ausführungen finden sich auch in „Die Kunst stillzusitzen: „ Coleman sprach von den Drei Juwelen, den Vier Edlen Wahrheiten, den Fünf Silas, den Sieben Stufen der Läuterung …

Was für ein Geschwafel, dachte ich. Und wieso haben alle Glaubensgemeinschaften – denn das hier war eindeutig keine Wissenschaft – diese wahnsinnige Vorliebe für Nummerierungen.“ (Die Kunst stillzusitzen, 280) Geoff Hall ist kein Schriftsteller, sondern ein erfolgloser Verleger, verheiratet mit einer viel älteren Frau, in einer Affäre mit einer anderen verwickelt, Vater einer Tochter, deren Leben auch nicht nach seinen Vorstellungen verläuft. Grund genug also, um sich für zehn Tage zurückzuziehen und den Versuch zu unternehmen, Klarheit zu gewinnen über die augenblickliche Lebenssituation. Hall ist der kritische Intellektuelle, der sich der buddhistischen Meditationspraxis mit teilweise beißendem Sarkasmus nähert. „Und wenn Dasgupta tot ist und wir der Stimme eines Toten zuhören? Jeden Abend, in jeder Sitzung spricht er vom Video zu uns. Obwohl er eigentlich schon tot ist. Spielt das eine Rolle? (…) Oder wenn sie Jesus, Mohammed oder den Buddha aufgenommen hätten? Die Bergpredigt. Auf DVD. Hören Sie die Stimme Ihres Erlösers in der hebräischen Originalversion mit Untertiteln. (Sie haben die Wahl zwischen der Lutherübersetzung und der Einheitsbibel).

In Halls Aufzeichnungen verarbeitet Tim Parks die Erlebnisse, die er auch schon in „Die Kunst stillzusitzen“ beschrieben hat: „Tag 6. habe mich für ein Gespräch mit dem Kursleiter eingetragen. Er heißt Ian Harper. Aus reiner Neugier. Ich erwarte nicht, dass er mir helfen kann. Zehn Minuten im Wohnzimmer seines Bungalow.“ (200) Im Vergleich: „Ich beschloss, nun doch einen Termin mit Coleman zu vereinbaren, und trug mich für den Morgen des achten Tages ein. (…) Es war ein kleines Zimmer mit zwei Sesseln, die sich gegenüberstanden.“ (Die Kunst stillzusitzen, 317) Auch das scheinbare Desinteresse, mit dem Harper Hall behandelt, findet sein Vorbild in dem vermeintlichen Mangel an Anteilnahme, mit dem Coleman in dem Gespräch Tim Parks gegenübertritt.

Schreiben ist verboten im Dasgupta-Institut während der zehn Tage des Retreats. Aber Hall kümmert sich nicht darum. Er muss schreiben, es ist Teil der Vergewisserung des Selbst, das er nicht ablegen kann, nicht ablegen will. Freiheit und Frieden sind optional. Sie sind möglich. Doch Hall verpasst die Chance, indem er Seite um Seite seines Tagebuches füllt und sich auseinandersetzt, nicht nur mit seiner vergangenen Situation, sondern auch mit der im Institut, die ihn nicht weiterbringt: „Eigentlich ist es angenehm, über dieses abwegige buddhistische Zeug nachzudenken statt über mein persönliches Elend. Vielleicht sollte ich als ultimative Realitätsflucht ein esoterisches Religionsverzeichnis herausbringen – „Tantrische Meditation für Anfänger. Hundert Reinkarnationen, die Sie um jeden Preis vermeiden sollten.“ Dafür gibt es bestimmt einen Markt.“ (209)

Über Beths Leiden erfährt der Leser durch die Versprachlichung des sich unablässig drehenden Bewusstseinskarussells. Hall bringt seine Wut, seinen Zorn über seine Vergangenheit in konzentrierter, reflektierter Form aufs Papier. Beide sehen das Potenzial, die Möglichkeiten, die in der Vipassana-Meditation enthalten sind, doch beide schrecken letztlich davor zurück, denn, so Hall: „Meditation sollte verboten werden. Unbedingt. Es ist gefährlich für den Geist, wenn er zu lange der Stille ausgesetzt wird. Wir brauchen Musik, wir brauchen Radio, wir brauchen Fernsehen, wir brauchen Partys. Sogar Bücher. Gute Nachrichten, schlechte Nachrichten, irgendetwas. Eigentlich gibt es nichts Besseres als schlechte Nachrichten. Ein Tsunami, ein Erdbeben, eine Überschwemmung (…) Schick eine Spende schreib einen Brief gib einen Kommentar ab sag deine Meinung bete deinen Spruch herunter irgendetwas nur nicht diese Stille ganz allein mit deinen Gedanken.“ (225) Doch wie sollte Hall alias Parks auf diese „Anmaßung“ auch reagieren. Er schleppt Körper, Geist und Seele in diesen Meditationsraum und wird nun mit Techniken konfrontiert, die den Geist zur Ruhe und zur Einsicht bringen sollen. In zehn Tagen ein neuer Mensch zu werden, um in unendlicher Gelassenheit das Vergangene vergangen sein zu lassen – nun, dieser Anspruch ist wohl etwas zu hoch gegriffen.

Zum Ende seiner Tagebuchaufzeichnungen kommt Hall/Parks noch einmal zu einer eindrucksvollen Selbstreflexion über den Prozess des Schreibens: „Was machen Geschichten denn anderes, als den Schmerz zu glorifizieren? Das trifft auf alle Romane zu, die ich verlegt habe (…) Sie glorifizieren das Leid. Nur ein Leben, das Leid beinhaltet, ist glamourös. Das liegt auf der Hand. Angefangen bei Jesus. Körperliches Leid Liebesleid geistiges Leid. Ohne Leid kein Glanz. Wir sind verliebt in dukkha. So sieht es aus. Bis über beide Ohren in den Schmerz verliebt.“ (226) Genau an diesem Punkt wird deutlich, warum sich die Befindlichkeit des in seinen Schmerz verliebten Abendländers und die Erlösungslehre des Buddhismus so schwer erfolgreich zusammenbringen lassen. Dasgupta sagt: Meine Freunde, das Letzte, was wir brauchen, ist Ihre unglückliche Geschichte. Das Letzte, was wir brauchen, ist ein Bericht über Ihren Schmerz.

Wir brauchen Stille.

Wenn Sie nicht aufhören können, zu weinen, gehen Sie bitte hinaus.“ (227)

Genau das machen Beth und Geoff nach dem Ende des Retreats: Sie gehen hinaus, weil sie nicht aufhören können, zu weinen. Sie lieben ihre Leidenschaften und Dramen viel zu sehr, als dass sie sich auf dieses Wagnis einlassen könnten, nicht mehr leiden zu müssen.

Denn wo wären sie dann?

 

Copyright Hubertus Tigges 2016

 

Tim Parks: Sex ist verboten. Roman. Verlag Antje Kunstmann GmbH, München 2012.

Tim Parks: Die Kunst stillzusitzen. Ein Skeptiker auf der Suche nach Gesundheit und Heilung. Verlag Antje Kunstmann GmbH, München 2010.

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