„Das dritte Königreich“ ist der dritte Band der auf mutmaßlich sieben Bände angelegten Romanreihe des norwegischen Schriftstellers Karl Ove Knausgård. Er hat einen Umfang von 651 Seiten, erschienen 2024 im Luchterhand Verlag, aus dem Norwegischen übersetzt von Paul Berf. Vorausgegangen sind „Morgenstern“ und „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“.
„Das dritte Königreich“ ist eine beklemmende Leseerfahrung, gelingt es dem Autor doch in der scheinbar unaufgeregten Schilderung des Alltäglichen eine dunkle Unterströmung zu evozieren, die Ungewissheit erzeugt. Ungewissheit in Bezug auf das weitere Schicksal der handelnden Personen, Ungewissheit aber darüber hinaus in Bezug auf das Schicksal der Menschheit. Die zweite Sonne, die eines Tages am Horizont auftaucht und bei den Menschen eine zwar überraschte, aber keinesfalls, wie vielleicht zu erwarten, überbordende hysterische Reaktion hervorruft - immerhin: eine zweite Sonne am Himmel! - scheint natürlich nicht nur über Norwegen, sondern über dem ganzen Planeten. Was ihr Erscheinen zu bedeuten hat, bleibt unklar. Auch bleibt die Frage unerörtert, wie es überhaupt möglich sein kann, dass plötzlich eine zweite Sonne über der Erde auf- und untergeht. Der helle Stern indes ist das für alle sichtbare Zeichen, dass etwas Ungewöhnliches geschieht. Die irritierenden Ereignisse beginnen mit dem Auftauchen dieser zweiten Sonne.
In „Das dritte Königreich“ erzählt Knausgård in mit den Vornamen der Hauptpersonen überschriebenen Kapiteln Alltägliches, dem jedoch Dunkles und Abseitiges an die Seite gestellt wird: Wahnsinn, Mord, Teufelsanbetung.
Die Protagonisten, die Knausgårds Roman bevölkern, sind die an eine bipolaren Störung leidende Malerin Tove, die mit ihrem Mann und den drei Kindern, zwei Jungen und ein Mädchen, Urlaub macht. Gante, der Lehrer, dem das tagelange Fehlen einer Schülerin Kopfzerbrechen bereitet und ihn zum Handeln zwingt. Line, eine 19jährige Psychologiestudentin, die sich in den charismatischen Valdemar, den Frontmann einer geheimnisumwitterten Black Metal-Band verliebt. Jarle, der Neurochirurg, der herauszufinden versucht, ob ein Patient, dessen Gehirn total beschädigt ist und durch die Ärzte als hirntot eingestuft wird, dennoch über ein Bewusstsein verfügt. Der Polizist Geir, der die brutale Ermordung von drei jugendlichen Mitgliedern einer Dark Metal-Band untersucht. Helge, der Star-Architekt, der sich mit Schuldgefühlen plagt, weil er als Kind mitangesehen hat, wie ein Auto von der Straße abkam und ins Meer fuhr, ohne dass er etwas unternommen hätte, um den Fahrer vor dem Ertrinken zu retten. Syvert, der Bestattungsunternehmer, der damit konfrontiert wird, dass landesweit sieben Tage lang keine Menschen mehr sterben. Schließlich Kathrin, die Pastorin, die mit Gaute verheiratet ist und ein weiteres Kind erwartet.
„Sie sagen, Depression sei erstarrte Wut. Ich selbst stelle sie mir als einen versteinerten Troll vor. Ein Geschöpf der Dunkelheit - rasend, gefährlich -, vom Tageslicht in etwas Unbewegliches und Lebloses verwandelt.
Manie ist, denke ich, wenn man sich selbst vergisst, wie man einen kochenden Topf auf dem Herd vergisst.
Zur Psychose kommt es, sobald die Manie ausgeschöpft ist, wenn ihr nur noch die Begegnung mit der Wirklichkeit bleibt (und mehr als alles andere fürchtet die Manie die Wirklichkeit). Die Psychose ist also eine Möglichkeit. Die Psychose ist wie eine der drei Türen im Märchen, diejenige, die auf keinen Fall geöffnet werden darf. Sie darf nicht geöffnet werden. Alle wissen es. Dennoch wird sie am Ende immer geöffnet. Hat man die Wahl zwischen Nichts und Etwas, versucht man erst Etwas.“ (11)
Depression. Manie. Psychose. Diese psychischen Ausnahmesituationen prägen das Leben der Malerin Tove, führen sie in die Psychiatrie und wieder hinaus. Ihre Auseinandersetzung mit Märchen, deren Abgründe und Abseitigkeiten, ist ein Bestandteil ihres Sujets.
Haben wir es vielleicht mit „Das dritte Königreich“ mit einem modernen Märchen zu tun, in dem schließlich die „dritte Tür“ geöffnet wird? Aber was heißt es, diese Tür zu öffnen? „In den Märchen ging es um alles, was sich unter der Oberfläche einer Kultur bewegte.“ (27) Unter der Oberfläche findet sich das Wilde und Groteske: „Der Bergmann, der dem Mädchen den Kopf abdrehte und ihn zusammen mit ihrem Körper in den Keller wirft. Die Alte, die mit dem Troll schläft und versucht, ihn davon zu überzeugen, ihren Sohn umzubringen, damit sie allein sein und öfter vögeln können. (…) Tiere und Menschen, die ineinandergleiten, Wölfe, die Kinder fressen. Das Blut und die Körper. Die Vergewaltigungen und Morde.“ (27) Der Lack der Zivilisation ist dünn. Unter der Oberfläche wartet die Barbarei, wie Thomas Mann es im „Zauberberg“ formulierte.
Tove hat alle Zeichnungen, an denen sie gearbeitet hat, zuhause gelassen. Die Urlaubszeit soll eine arbeitsfreie Zeit sind, das hat sie mit Arne, ihrem Mann vereinbart. Und sie soll ihre Medikamente nehmen. „Hast du deine Tabletten genommen?“
„Natürlich“, antwortete ich, obwohl ich das nicht getan hatte. (31)
Ihre erste Psychose erlebt und durchleidet Tove, nachdem sie an der Kunstakademie angenommen worden war. Es folgt ein Aufenthalt in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie. Dabei bleibt es zunächst. „Keine weiteren Anfälle, keine weiteren Klinikaufenthalte.“ (49) Aber „die Stimmen blieben.“ (49)
Die Stimme, die sie in den ersten Tages ihres Urlaubs hört, ist jedoch anders. „Sie kam nicht aus einer anderen Welt. Und sie stand ganz allein. Sie war wie ein Mensch aus dieser Welt. Aber sie ertönte in meinem Kopf, musste ein Produkt meiner Gedanken sein. Drei Tage ohne Medikamente; das war der Grund.“ (50)
Es wird im weiteren Verlauf schwer sein, zu entscheiden, ob die „Stimme“ tatsächlich ein unterdrückter Anteil Toves ist oder doch aus einer „anderen Welt“ stammt. Geschickt wählt Knausgard einen Menschen mit einer schizoiden Persönlichkeitsstörung, um den Riss in der von ihm geschilderten Welt aufzuzeigen, ein Riss, aus dem etwas Bedrohliches in die Welt strömt, ohne dass es zu diesem Zeitpunkt zu greifen ist. Tove scheint in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle zu spielen, wobei auch hier unklar bleibt, ob das Andere dem Geist Toves entspringt oder ob es eine eigenständige Entität ist, die sich Tove bedient.
Als Tove in der Nacht zwei Füchse beobachtet, meldet sich die Stimme:
„Die Füchse amüsieren sich heute Nacht.
Was willst du von mir? Und wer bist du? Du gehörst nicht zu Anara, oder?
Ich bin der, der ich für dich sein soll.
Ich merke, dass du ganz schön durchtrieben bist. Aber was willst du von mir?
Ich brauche dich für etwas.
Und für was?
Das wirst du sehen.“ (60)
Die Stimme ist Toves ständige Begleiterin. Dass sie während des Urlaubs so vehement auftritt, ist offenbar auch dem Umstand geschuldet, dass Tove darauf verzichtet, ihre Psychopharmaka zu nehmen. Sie stürzt sich, entgegen der Absprache, die sie mit Arne, ihrem Mann, getroffen hat, in die Arbeit. Sie will malen, muss malen. Sie hat keine Wahl. Das Projekt, im Urlaub mit Mann und Kindern Erholung zu finden, scheitert. „Ich war mit meiner Familie im Urlaub, und zwischen mich und die Kinder schob sich eine Glaswand. Meinen Mann sah ich wie durch das falsche Ende eines Fernrohrs. Was er unternahm, hatte nichts mit mir zu tun. Ich war mit anderen Worten auf dem Weg hinaus.“ (525)
Tove versinkt in eine tiefe Depression, es fällt ihr unendlich schwer, am Familienleben teilzunehmen. Erst ihrer Schwiegermutter, die zu Besuch kommt, gelingt es, sie aus dem dunklen Tal herauszuholen. Der Konflikt mit Arne, der nicht will, dass sie malt - „Ich kenne dich, Tove. Zwei Tage, und du arbeitest rund um die Uhr. Ich kann dir nicht den kleinen Finger reichen, denn dann nimmst du die ganze Hand.“ (550) - provoziert die Stimme, die eindeutig Position bezieht: „Er will dich provozieren.
Ich hatte große Lust, vor Verzweiflung zu schreien.
Er ist eifersüchtig auf deine Kunst.
Ich stand blitzschnell auf, eilte zum Haus und ins Bad.
Lass mich in Ruhe. Sei so liebe, sagte ich und begegnete meinem Blick im Spiegel. (…)
Fürchte dich nicht. Du bist nicht verrückt.
Zur Hölle mit dir.
Du kannst mich genauso gut akzeptieren. Ich werde nicht so schnell verschwinden.“ (551)
Für Tove hängt die Stimme mit ihrer Arbeit zusammen. „Als die Stimmen das erste Mal auftauchten, war ich intensiv in ein Projekt vertieft gewesen, und zwar zum ersten Mal.“ (552)
Doch die Stimme kehrt wieder. Und nicht nur die Stimme. Tove wird mit einer Person konfrontiert, die ihr gegenübertritt und offenbar nicht als Projektion ihres Geistes zu verstehen ist. Wurden die Äußerungen der Stimme bisher in Kursivschrift wiedergegeben, so ändert sich das in der nächsten folgenreichen Begegnung: „Hinter mir drückte jemand die Klinke herunter.
Sie ging mehrmals auf und ab.
Mein Herz pochte wie in einem Albtraum.
„Wer ist da?“, sagte ich.
„Ich bin es“, antwortete die Stimme draußen.
„Wer bist du?“
„Ich bin der, der ich für dich sein soll.“
Ich schloss auf. Er stand imposant im Türrahmen. Das Gesicht grobschlächtig, die Hände groß, die Augen weiß.
Ich wich mehrere Schritte zurück, stützte mich mit den Händen auf dem Pult ab.
Er war nicht menschlich.
Dann war er es. Das Gesicht rund, weich, die Haut auf den Wangen vernarbt, die Augen plötzlich blau mit roten Einsprengseln im Weiß.
Er lächelte. (569)
„Was willst du von mir?“
Er drehte den Kopf, groß und schwer, das Gesicht roh, als wäre es noch nicht ganz fertig.
Er richtete sich auf wie ein Tier.
„In zwei Tagen wird ein Stern am Himmel aufsteigen. Die Tore zum Totenreich werden sich öffnen. Du wirst sehen, was kein anderer sehen kann. Das ist unser Geschenk an dich.“
Er stand neben mir, die Hand mit dem Kätzchen ausgestreckt.
„Nimm es“, sagte er. „Und sei gut zu ihm, denn morgen wirst du es töten.“
Ich war allein im Raum, das Kätzchen an die Brust gepresst.“ (570)
Wer oder was ist diese Gestalt, die Tove erscheint? Aufgrund ihrer Krankheitsgeschichte ist zu vermuten, dass sie eine Projektion ihres Geistes ist. Aber wie kann dieser Geist wissen, dass ein neuer Stern am Himmel erscheinen wird, zwei Tage nach der Begegnung? Der Hinweis darauf, dass sie etwas sehen wird, was kein anderer sieht, führt zurück auf das schizophrene Bewusstsein, das Inhalte erschafft, die nur der kranke Mensch sehen kann.
Am Folgetag tötet Tove unbeabsichtigt eines der kleinen Kätzchen, die die Hauskatze kurze Zeit zuvor geboren hat. „Ich stand auf, um ins Atelier zu gehen, und trat auf etwas Weiches. Etwas schrie hell und laut auf.
Es war ein Kätzchen, es lag vollkommen still in einer kleinen Blutlache.“ (573)
Die Prophezeiung der Gestalt erfüllt sich. Aber hier handelt es sich um einen unglücklichen Unfall. Dass Tove die Toten sieht, besitzt eine andere Dimension: „Draußen erhob sich Lärm. Ich drehte mich um.
Was ist, Mama?“
Fern, wie vom Meer, erklang Gelächter. Dann Heulen und Schreien. Ich lief auf den Rasen hinaus.
Etwas kam angeflogen. Es streckte sich weit nach hinten, schoss hierin und dorthin, in einem rasenden Tempo, und ich schrie vor Angst, denn es waren die Toten, die kamen, wankend und flatternd, johlend und schreiend, manche auf Pferden, manche fliegend, einige gingen sich gegenseitig an die Gurgel. Es waren Hunderte von ihnen, und sie kamen über das Land.
„Ah, Tove!“, rief einer. „Wir haben von dir gehört! Komm mit!“ (584)
Aber Tove kommt nicht mit. Wie auch? Sie wird erneut in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Dort trifft sie Jesper, Mitglied einer Hard Metal-Gruppe. Drei Musiker sind auf grausame Art und Weise getötet worden. Jesper steht im Verdacht, die anderen Bandmitglieder umgebracht zu haben, ist aber von den Geschehnissen selbst so überwältigt, dass er in eine Klinik eingewiesen worden ist.
In der Begegnung mit Jesper wird die Gewissheit, dass Toves Erfahrungen ihrer Psychose geschuldet sind, wieder infrage gestellt: „Ich habe den Auftrag erhalten, dir einen letzten Gruß zu übermitteln.“
„Einen Gruß? Von wem?“
Er lehnte den Kopf in den Nacken und riss den Mund auf wie ein Fisch. Drei Mal tat er das, eher er mir sein Gesicht zuwandte.
„Er zieht jetzt davon, zusammen mit den seinen. Er sagt dir Lebewohl, und er sagt, deine Aufgabe wird sich zeigen.“
Mein Herz schlug wild in der Brust.“ (650)
Da der Leser das Geschehen mit Toves Augen betrachtet, bleibt auch hier unklar, ob es sich um ihre Vorstellung, ihre Fantasie, ihre Psychose handelt, oder ob der Szene Realitätshaftigkeit zukommt. Der Roman schließt mit Toves Beobachtung, dass der neue Stern nicht mehr leuchtet.
Gaute ist Lehrer. Als das neue Schuljahr beginnt, die Schüler zusammen gekommen sind, muss er feststellen, dass eine Schülerin fehlt: Gudrun. „Gudrun war speziell, sie blieb für sich. Außerdem sagte sie nichts. Nicht ein Wort zu irgendjemanden.“ (72) Für Gaute ist Gudrun ein „klarer Fall für die Schulpsychologin“ (55) Die Mutter Gudruns erklärt, dass an Gudrun nichts Besonderes sei. Das Problem liege wohl eher an der Schule und nicht an dem Mädchen. Doch „Gudrun unterschied sich von den anderen Mädchen, hatte immer abgetragene Kleider an, die sie vermutlich von einer anderen Schwester übernommen hatte (…) Sie sah auch speziell aus, ihr Gesicht war blass mit einer vorspringenden Kinnpartie, die Augen saßen tief, und die Haut unter ihnen war bläulich.“ (73)
Nachdem Gudrun auch am folgenden Tag nicht in der Schule erscheint, beschließt Gaute, sie zu Hause zu besuchen. Doch der Besuch führt lediglich zu der Auskunft, dass es Gudrun nicht gut gehe und zu der Versicherung der Mutter, dass sie schon bald wieder in der Schule sein wird.
Da Gudrun der folgenden Woche immer noch fehlt, schaltet Gaute eine Schulpsychologin ein. Von Gudruns Mutter erfährt er den Grund für ihre Erschöpftheit: „Kann sie nicht schlafen?“, fragte ich, als ihre Mutter keine Anstalten machte, mehr zu sagen.
„Sie hat Albträume. Morgens ist sie dann völlig erschöpft.“
„Tatsächlich?Albträume?“
„Ja. Manchmal ruft und schreit sie im Schlaf. Sie hat sich auch im Gesicht gekratzt.“ (98)
Gaute informiert sich im Internet über „krankmachende Albträume“. Narkolepsie ist die Bezeichnung für eine „seltene, chronische Krankheit, die auf unterschiedliche Weise zu extremer Schläfrigkeit am Tag führt.“ (99) All das trifft auf Gudruns Zustand zu, womit eine natürliche Erklärung für ihr Fehlen gefunden ist. Dennoch gibt es auch hier eine dunkle Metaebene, die sich mit diesem Befund nicht anfreunden will. Über was träumt Gudrun? Warum ist sie so verschlossen?
In der Zwischenzeit hat die Mutter ein Video von Gudrun geschickt: „Der folgende Film war körnig aufgenommen in einem halbdunklen Raum. Gudrun lag im Bett, warf den Kopf hin und her. Ihre Augen waren geschlossen. Das Gesicht war bleich und verschwitzt. Von Zeit zu Zeit sagte sie etwas, fast fauchend, mit zusammengebissenen Zähnen.
Dann setzte sie sich auf und schrie.
Es war das Unheimlichste, was ich jemals gesehen hatte. Die Augen weit aufgerissen und der Kopf nach hinten gebogen, und der Schrei wurde sozusagen mit aller Kraft ihres Körpers ausgestoßen.
Sie fiel ins Bett zurück und wand sich, als bekäme sie Schlag auf Schlag.“ (110)
Das Mädchen schreit etwas: „Amini shamini Amini shamini. So hörte es sich an, was sie sagte.
Und dann der Schrei. Er war so von Grauen erfüllt, dass ich selbst Angst bekam.
Es sah aus, als hätte sie eine Art Anfall. Konnte es Epilepsie sein?“ (110)
Die Schulpsychologin gibt eine rationale Erklärung für Gudruns Verhalten: „Sie könnte etwas Traumatisches erlebt haben. Etwas wirklich Traumatisches. Zum Beispiel Missbrauch. Vielleicht hat man sie gezwungen zu schweigen. Dann ist es im Grunde ganz rational, einfach überhaupt nicht mehr zu sprechen. Und dann erlebt sie es im Traum von Neuem. Oder es kann Angst sein. Aber die kommt ja auch irgendwoher.“ (112)
Ein Priester würde beim Anblick eines solchen Verhaltens vielleicht von Besessenheit sprechen, davon, dass das Kind von Dämonen gequält wird.
Die Mutter Gudruns ist nach wie vor davon überzeugt, dass ihrer Tochter nichts fehlt. Ein Arzt könne nicht helfen. Außer mit Schlaftabletten vielleicht. Einem Besuch durch die Schulpsychologin stimmt sie schließlich zu. Gudruns Mutter gibt Gaute und der Psychologin eine Erklärung für das auffällige Schweigen des Mädchens: „Gudrun hat eine ungewöhnlich tiefe Stimme. Sie hört sich fast an wie ein Mann. Sie schämt sich wahnsinnig dafür. Und die anderen Kinder haben das nicht unkommentiert gelassen. Deshalb hat sie beschlossen, ihnen keinen Zündstoff mehr zu liefern.“ (130)
Nachdem die Mutter sich anfänglich weigert, Gaute und der Psychologin Zugang zu Gudrun zu gewähren, gibt sie doch nach. Gudrun „lag auf der Decke, in T-Shirt und Shorts. Sie war furchtbar dünn. Das Schlüsselbein stach hervor, und der Hüftknochen. In dem düsteren Licht sah ihre Haut gelb aus.“ (133) Die Psychologin weckt das Mädchen. „Er ist hier“, flüsterte sie.
„Wer ist hier?“, fragte die Psychologin und beugte sich eifrig vor. „Wer ist hier, Gudrun?“
Sie schüttelte nur den Kopf.
„Ist es dein Vater?“
„Nein, jetzt hören Sie aber mal!“, sagte die Mutter.
„Hast du Angst?“, fragte die Psychologin.
Gudrun nickte.
„Vor wem hast du Angst?“
„Er ist hier“, flüsterte sie wieder.“ (134)
Für die Psychologin besteht eindeutig eine Verletzung der Fürsorgepflicht: „Das Mädchen ist doch nur noch Haut und Knochen. Wie kann man nur eine anorektische Vierzehnjährige vor sich haben und sich keine Hilfe holen? Sie zu Hause verstecken? Diese ganze Scheiße über Freiheit und die DDR? Während ihr Kind sich zu Tode hungert?“ (138) Folgerichtig will sie das Jugendamt einschalten, um dem Mädchen zu helfen.
Gaute erkennt in Gudruns Verhalten jedoch etwas „anderes als das, was die Psychologin sah. Das war keine Angst. Sie fürchtete sich, aber nicht auf eine generelle Art, was wir gesehen hatten, war keine allgemeine Besorgnis. Sie fürchtete sich vor etwas ganz Konkretem.“ (139)
Er schaut sich noch einmal das Video an und bleibt an den Wörtern Amini Shamini hängen.
„Amini stellte sich als ein persischer Name heraus. Laut Wikipedia bedeutete er „treu, loyal, von ganzem Herzen.“
Shamini fand ich auch. Auch das war ein Name, aber Hindi, nicht Persisch. Er bedeutete „himmlischer Stern.“
Loyal zu einem himmlischen Stern.
Hatte sie das gesagt? Im Schlaf, zwei Tage, bevor der neue Stern auftauchte?
Das musste ein Zufall sein. Sie konnte kein Persisch. Sie konnte kein Hindi. Und sie hatte keine Ahnung, dass sich bald ein neuer Stern am Himmel zeigen würde.
Aber konnte das ein Zufall sein.
Es musste einer sein.“ (140 f.)
Auch in der Erzählung um Gudrun begegnet dem Leser der Widerstreit zwischen rationaler Erklärung und einer Interpretation, die auf eine andere Dimension weist. So wie Tove scheint Gudrun mit Mächten in Kontakt, die über das hinausgehen, was die Psychologie als Erklärungsmuster bereithält.
Die Psychologin drängt darauf, dass Gudrun wegen Essstörungen zwangseingewiesen wird. Folgerichtig aus therapeutischer Sicht.
Etwas Dunkles, Böses geht durch die Zeit. Es wird nicht klar erkannt, noch weniger deutlich benannt, stattdessen stattdessen wollen die Protagonisten das Dämonische durch den Rekurs auf wissenschaftliche Erklärungen nicht in die Welt und ins Bewusstsein dringen lassen. Auf beängstigende Weise wird Tove mit dem Bösen konfrontiert. Aber ist sie mit ihrer schizoiden Persönlichkeitsstörung nicht „entschuldigt“, da die grauenhaften Bilder, die sie sieht, „nur“ Hervorbringungen ihres Geistes sind? Gudrun leidet an etwas oder "jemanden", das oder der sie fest in der Gewalt zu haben scheint. Unklar ist, was es ist. Die Psychologin kann nur Vermutungen anstellen.
Eine weitere Hauptgestalt des Romans, die in den Dunstkreis des Dunklen gezogen wird, ist die junge Psychologie-Studentin Line. Sie verliebt sich ausgerechnet in den charismatischen Frontmann einer DarkMetal-Band. Valedamer, glaubt Line, ist kein Nazi: „Wenn er über das dritte Reich sprach, meinte er nicht die Nazis, sondern etwas, woran sie im Mittelalter geglaubt hatten, dass das erste Reich Gottes Zeit war, das zweite Reich Jesu Zeit und das dritte Reich die Zeit des Heiligen Geistes.“ (182) Ihre Mitbewohner warnen Line vor Valdemar. „Er ist richtig bad news“, sagte Klara. „Halt dich fern von ihm.“ Und: „Er ist mal in Naziuniform in eine Vorlesung gegangen.“ (186)
Als Valdemar ein Konzert seiner Band in Schweden organisiert und Line einlädt, folgt sie seiner Aufforderung und reist nach Karlstadt. Es geht weiter auf einen abgelegenen Hof, auf dem sich Fans der Band, knapp vierzig, handverlesen aus allen Teilen Europas, eingefunden haben. Valdemars Band hat sich allen Kommerzialisierungsbestrebungen entzogen. Sie spielt nur live, es gibt keine Aufnahmen, nichts, was eine Verbreitung der Musik dienen könnte. Line ist beeindruckt von der musikalischen Darbietung, verbringt die Nacht mit Valdemar und schläft mit ihm. Doch als er von ihr verlangt, dass sie sich mit einem Messer von ihm ritzen lässt - was er auch macht -, verliert sie das Vertrauen in ihm und will so schnell wie möglich zurück. Dennoch bleibt sie ihm verfallen. Als sie wieder zurück in Norwegen ist, stellt sie fest, dass sie schwanger ist. Trotz ihrer Vorbehalte und Vorwürfe, die sie sich macht, kommt sie zu einer folgenschweren Entscheidung: „Als ich halb durch war, mir gerade ein paar Bilder ansah, auf denen wir sechs, sieben Jahre alt waren, passierte draußen etwas. Der ganze Fjord leuchtete plötzlich.
Ich ging zum Fenster und lehnte mich hinaus. Ein riesiges Licht stieg hinter den Bäumen auf.
Ein verdammtes UFO?
Ich bekam Angst, konnte aber den Blick nicht davon wenden.
Es stieg höher. Kurz darauf hing es über den Bäumen am Himmel.
Das war kein UFO. Es war ein Stern!
Das Licht, das er auf die Landschaft warf, war zauberhaft und so schön, dass mir Tränen in die Augen traten.
Ich sah und sah diesen leuchten Stern an und wusste plötzlich, was ich tun würde.
Ich würde mich nicht hieran klammern. Ich würde nichts darauf geben, was die Leute dachten.
Ich würde tun, was ich wollte.
Ich würde zu Valdemar Ja sagen, und ich würde das Kind zur Welt bringen.“ (456)
Valdemar. Voldemort. Ist die Assoziation, die sich aus einer sprachlichen Ähnlichkeit ergibt, zu weit hergeholt? In den Harry Potter-Romanen ist Voldemort bekanntlich der dunkle Fürst, der Böse, der die Herrschaft mit aller Macht an sich reißen will. Von Valdemar lässt sich Ähnliches nicht wirklich behaupten. Er ist dunkel und offenbar ein überzeugter Gegner des Systems. Doch besitzt er - bislang - kaum die Macht, um seine Vorstellungen jenseits der Musik, die er zelebriert, auch durchzusetzen.
Geir ist Kommissar bei der Kriminalpolizei. Er wird mit der Aufklärung eines Falles beauftragt, der im Roman immer wieder zur Sprache kommt. Drei Mitglieder eines Metal-Band sind umgebracht worden. Ihre Körper wurden gehäutet, ihre Kehlen durchgeschnitten und die Köpfe skalpiert. „Die Münder waren so hergerichtet, dass sie grinsten. Ihre Köpfe waren umgedreht worden, sodass der Rücken dort war, wo eigentlich die Brust gewesen wäre.“ (294) Das vierte Bandmitglied ist Jesper Holm Jensen, der als dringend tatverdächtig gilt. Für Geir ist Jesper der Schlüssel. „War er nicht der Täter, war er ein Zeuge. Und wenn er wider Erwarten kein Zeuge der Morde war, würde er wahrscheinlich wissen, wer es getan hatte und warum. (…) Kvitekrist flirtete mit dem Bösen und dunklen Mächten, und dass es auf diese Art endete, konnte eigentlich nur in Verbindung damit gesehen werden.“ (310)
Geir stellt drei Hypothesen über den Tatverlauf auf, die sich alle im Rahmen rationaler kriminalpolizeilicher Überlegungen bewegen. „Andere Szenarien konnte ich mir nicht vorstellen.“ (511)
Während Geir die Vermutung hegt, dass Leute aus dem Black Metal-Milieu durchgedreht waren, bleibt er doch daran hängen, dass es „da noch diese seltsamen Dinge“ (334) gab: „Der neue Stern, der ausgerechnet zu der Zeit am Himmel aufstieg. Der Geruch von Schießpulver. Dass es auf der Lichtung keine nennenswerten Spuren von einer oder mehrerer Personen gab, jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Der Satanist Jesper, der auf den Knien lag und zu Gott betete - aber das konnte natürlich auch eine Regression gewesen sein, ja, so musste es sein.“ (511)
Er holt sich Informationen von einem Autor, der ein Buch über die Black Metal-Szene geschrieben hat. Er erfährt, dass die Szene eine ganz neue Entwicklung durchläuft: „Während sich die Bands der ersten Welle dem Teufel anbiederten und sich Satanisten nannten und die Bands der zweiten Generation auf alles Altnordische standen - Odin und die Wikinger und so - haben die neuen Leute das Ganze einen Schritt weitergetrieben. Sie nennen alles, was bisher gewesen ist, Posen, womit sie natürlich recht haben. Sie wollen es wirklich machen.“
„Das Böse? Aber haben sie das nicht schon getan, als sie anfingen, Kirchen niederzubrennen und Leute umzubringen?“
„Nein, sie wollen nicht das Böse wirklich machen.“
„Dann sind es keine Satanisten?“
„Doch, Satan ist ihnen wichtig. Aber in ihren Augen verkörpert Satan nicht das Böse. Er ist jenseits von Gut und Böse, könnte man sagen. Er steht für das Tierische, für Blut und Erde und Schmerz und Tod, und dem haben sie sich zugewandt. Sie lehnen die ganze moderne Wirklichkeit ab. Sie gehen nicht ins Internet, sie besitzen keine Handys oder PCs. Sie haben keine Schaf- oder Schweineköpfe, die sie billig beim Metzger bekommen und auf Pfähle spießen, wie die ersten Black Metal-Bands, sie opfern eigenhändig Tiere. Als Ritual, wie im Alten Testament.“ (365)
Eine der wichtigsten Vertreter dieser Richtung ist die Band „Domen“, als deren Frontmann Valdemar in Erscheinung tritt. „Sie machen nur für sich selbst Musik. Und sie sind auch darin Satanisten, dass sie machen, was sie wollen, und dabei keine Grenzen kennen. Do what you wilt.“ (366)
Geir verfügt über Handyaufnahmen der Gruppe. Nach und nach schaut er sich die Videodateien an.
„Die nächste Sequenz spielte sich auf einer kleinen Lichtung im Wald ab. Ich beugte mich vor. Es war Nacht, ein Lagerfeuer brannte, ansonsten herrschte Leere.“ (373) Etwas Ungewöhnliches fällt ihm auf: „In dem Moment nahm ich im Hintergrund flüchtig eine Bewegung wahr. Oder doch nicht? Es war so schnell vorbei, dass es ein glitch oder etwas Ähnliches sein musste? (…)
Als ich die Sequenz erneut laufen ließ, gab es doch keinen Zweifel, dort bewegte sich jemand, etwas Dunkles. Wie ein Schatten ohne Körper.“ (374)
Geir öffnet sich für einen Augenblick der Möglichkeit, dass etwas mit der Ratio nicht Fassbares geschehen sein könnte: „Es kam mir vor, als würde das Teuflische, das die Jungen umgab, die Gedanken auf eine bestimmte Wellenlänge einstellen, als versetzte es ihnen einen Stoß ins Unbekannte.“ (375)
Aber dann reißt er sich zusammen und erkennt: „Aber es ging um einen konkreten Mord mit drei konkreten Opfern, begangen von einem oder mehreren konkreten Mördern. Und die waren noch auf freiem Fuß.
Darum ging es. Um nichts sonst.“ (375)
Später zeigt Geir die Videoaufnahmen der Pastorin Kathrin. Er macht sie auf die Stelle aufmerksam, an der etwas Schemenhaftes zu sehen ist. „Im Hintergrund, zwischen den Bäumen. Da taucht etwas auf. Schauen Sie.“
Ich starrte auf die Bäume. Diesmal sah ich etwas, das sich dort bewegte. Etwas Schwarzes. (…)
„Egal, wie langsam ich den Film laufen lasse, die Bewegung ist blitzschnell. Es ist da, nicht wahr, und dann ist es da, praktisch im selben Moment. Sie haben es gesehen.“ (624)
Dann stellt Geir die entscheidende Frage: „Halten Sie es für möglich, dass es den Teufel gibt?“ (624)
Kathrine findet die Vorstellung, dass es sich bei dem Schatten um den Teufel halten könnte, für abwegig. Geir klärt sie über die Morde auf, die dort geschehen sind. Er schließt die Möglichkeit des Eingreifens einer dunklen Macht nicht mehr aus. „Und verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich sage nicht, dass der Teufel existiert. Ich sage nur, dass es sich nicht definitiv ausschließen lässt.“ (627)
Der Teufel also. Hier wird das rationale Erklärungsmuster für die Tat aufgebrochen, und das Irrationale wird für den Kommissar zur Erklärungsmöglichkeit.
Mit einem ganz und gar ungewöhnlichen Geschehen muss sich der Bestattungsunternehmer Syvert auseinandersetzen: Es sterben keine Menschen mehr. Seitdem der neue Stern am Himmel aufgegangen ist, sind keine Menschen mehr ums Leben gekommen. „Jetzt sieht es ganz so aus, als hätte es drei Tage lang keinen einzigen Todesfall gegeben. Ich habe in Oslo angerufen. Da ist es das Gleiche.“ (487) Für Joar, Geirs Bruder, ist das Ausbleiben der Todesfälle immer noch eine statistische Wahrscheinlichkeit. „Es ist noch nie vorgekommen, da bin ich mir sicher, aber unmöglich ist es nicht. Statistische Wahrscheinlichkeit, Wahrscheinlichkeitstheorie, ist reine Mathematik.“ (493)
Hinzu kommt, dass sich die Träume der Menschen verändert haben. Darauf macht ihn sein Bruder aufmerksam. Joar beobachtet seine Träume. In den Traumbanken, in denen Menschen ihre Träume hochladen können, so hat er festgestellt, haben sich die Träume verändert. „Das ist bemerkenswert. Und nicht nur das. Die Träume, die von den Leuten beschrieben werden, ähneln denen, die ich habe.“ (478)
Auch hier wird der Versuch unternommen, Anomalien mit Wissenschaft zu erklären. Dass landesweit an sechs aufeinander folgenden Tagen keine Menschen sterben, ist ungewöhnlich, aber durchaus nicht außerhalb der Wahrscheinlichkeitsnorm. Mit dem Auftauchen der zweiten Sonne verändern sich die Träume der Menschen. Es gibt keine Sterbefälle mehr. Was geschieht hier? Erstaunlich sachlich scheinen die Menschen in Knausgards Romankosmos mit diesen ungewöhnlichen Erscheinungen umzugehen. Etwas scheint sich grundsätzlich zu verändern - und doch muss der Alltag gelebt werden.
Dieser Alltag ist bei allen Personen durch die Beziehung zur Ehefrau, zum Ehemann, zum Freund oder zur Freundin gekennzeichnet. Tove ist mit Ehemann und ihren drei Kindern im Urlaub und setzt sich fortwährend mit Arne, ihrem Mann, und den Söhnen und der Tochter auseinander. Gaute, der sich um die fehlende Gudrun sorgt, fühlt sich als betrogener Ehemann, glaubt sogar, dass seine Frau Kathrine von einem anderen Mann ein Kind bekommt. Line ist eingebunden in die Freundschaftsbeziehungen zu ihren WG-Mitbewohnern und darüber hinaus in das Verhältnis zu ihrer Mutter. Geir, der Kommissar, führt eine Ehe und gleichzeitig noch eine Beziehung zu einer Geliebten. Syvert pflegt eine stabile Ehe und ist seiner Frau in Liebe verbunden. Auffallend ist, dass im vorletzten Kapitel der Konflikt zwischen Kathrine und Gaute, der in Kapitel 2 - Gaute - so hartnäckig tobte, nicht mehr stattfindet. Kathrine ist schwanger. Als Gaute den Schwangerschaftstest gefunden hatte, war er außer sich vor Wut und zweifelte, dass er der Vater ist. Der Streit flackert im Kapitel „Kathrine“ noch einmal auf, als sie Gaute von ihrer Schwangerschaft erzählt, und er immer noch nicht davon überzeugt ist, dass er der Vater ist. Doch dann lenkt er ein: „Du?“, sagte er. „Ich habe fürchterlich reagiert. Das tut mir leid.“ (613)
Die Darstellung der Beziehungssituation in diesem Kapitel passt nicht zu der Schilderung des außergewöhnlich angespannten Verhältnisses von Gaute und Kathrine, wie es einige hundert Seiten zuvor thematisiert worden ist. Das ist für mich nicht stimmig erzählt, auch wenn die Erzählperspektive von Gaute zu Kathrine gewechselt ist.
Ist Das dritte Königreich ein großer Roman? Nein, für mich nicht. Weder inhaltlich noch sprachlich. Das Buch ist für mich kein bedeutendes Sprachkunstwerk. Die Sprache ist sachlich, beschreibend, die Dialoge gepflegt, die Reflexionen interessant, aber wenig offenbarend oder für „Aha!-Effekte“ sorgend. Selten gab es für mich bei der Lektüre einen Moment, der mich sprachlich fasziniert hat. Seine inhaltliche Stärke gewinnt der Roman durch die angedeutete Dystopie: Es ist dauerhaft heiß in Norwegen, der Klimawandel macht sich bemerkbar, das Auftauchen einer zweiten Sonne ist befremdlich und eigenartig. Aber noch befremdlicher fand ich, dass dieses Ungwöhnliche bei den Protagonisten des Romans festgestellt, auch thematisiert wird, aber kaum das Maß an Erstaunen über das Außergewöhnliche provoziert, dass zu erwarten wäre. Etwas Unheilschwangeres liegt in der Luft, etwas Böses, das sich Ausdruck verschafft. Doch was genau geschieht und warum, erfährt der Leser nicht. Das mag dem Umstand geschuldet sein, dass diesem Roman noch weitere folgen sollen, sodass die Erzählfäden weitergesponnen werden mögen.
Nachdem eine Woche seit der Lektüre vergangen ist, denke ich an den Roman wie an eine Zeitungslektüre. Er leuchtet nicht. Er ist flach. Sprachlich, inhaltlich. Das Beklemmende, das sich während der Lektüre eingestellt hat, ist schnell wieder verflogen. Im Augenblick lese ich den ersten Band der Reihe - „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“ -, und nach den ersten dreißig Seiten wollte ich das Buch zur Seite legen. Die Sachlichkeit, mit der Alltagserfahrungen geschildert werden, hat mich, offen gestanden, gelangweilt. Aber da dieser Band und der zweite - „Morgenstern“ - zu „Das dritte Königreich“ führen, werde ich weiterlesen.
Nachtrag, 19. Oktober 2024: Ja, ich habe es geschafft, "Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit" bis zur Seite 464 zu lesen. Erschienen ist der Roman in der Übersetzung im Jahr 2023 im Luchterhand Literaturverlag. Er hat einen Umfang von 1051 Seiten.
Offen gestanden ist es mir ein Rätsel, warum der Verlag sich zur Veröffentlichung eines solchen Buches entschieden hat. Es ist die reine, unverstellte Langeweile, die einem auf jeder Seite entgegenspringt. Es gibt keinerlei Spannungsbogen, keinerlei Anmutung, dass dem Autor das Erzählen Freude bereiten würde. Die Sachlichkeit, mit der Knausgard Alltag erzählt, ist gnadenlos langweilig. Wenn Syvert, der aus der Armee entlassen worden ist, wieder am Herd steht, um eine Mahlzeit zuzubereiten, bereitet sich in mir als Leser Verzweiflung ob der Wiederkehr des immer Gleichen aus. Warum greift das Lektorart hier nicht ein? Was wird hier eigentlich verkauft? Literatur? Oder der Name des Autors? Immerhin weckt der Titel - "Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit" - eine Erwartung, die bis zur Seite 446 allerdings nicht eingelöst worden ist. Ob da noch etwas kommt - ich glaube es nicht. Ich lege das Buch zur Seite und verzichte auf die Lektüre weiterer Knausgard-Publikationen.
copyright 2024 Hubertus Tigges
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