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Herr Sattler
Um zehn Uhr verließ Alice Müller ihr Haus, schaltete zuvor alle Sicherheitssysteme an und ließ die Hunde hinaus. Dann stieg sie in ihren Porsche, gab den Zielort in ihr Navigationsgerät ein und ließ sich von der etwas gelangweilt klingenden Herrenstimme zum Haus von Karl Sattler führen. Um elf waren sie verabredet. Hatte sie alles dabei? Aufnahmegerät? Kamera? Den kleinen Laptop? Sie prüfte noch einmal alles und stellte fest, dass sie nichts vergessen hatte.
Sie fuhr durch beinah menschenleeres Gebiet. Hier und da eine winzige Ortschaft, in der jedoch längst schon nicht mehr alle Häuser bewohnt waren. Die Dachstühle waren zusammengestürzt, die Fenster mit Holzlatten vernagelt. Bauernhöfe. Dann, etwas abseits der Straße, in der Sonne hell leuchtende Villen, umgeben von Zäunen, die dem ihren ähnelten. Das Land, durch das sie fuhr, war flach und hügellos. Felder und Wiesen, auf denen Hunderte von schwarz-weiß gescheckten Kühen standen und fraßen, erstreckten sich bis zum Horizont. Es musste Millionen verschlingen, diesen Landstrich zu sichern, dachte Alice Müller. Aber sie wusste ja selbst, wie viele chinesische RMBs sie jeden Monat an den Sicherheitskonzern überwies, damit der darauf achtete, dass dieses Ressort von illegalen Einwanderern verschont blieb. Einmal im Monat bekam sie eine Hochglanzbroschüre zugeschickt, in der MP-Security, so der Name des Sicherheitsunternehmens, seine Erfolgsstatistik ausbreitete: Das Unternehmen stellte dar, wie viele Einwanderer versucht hatten, den Großraum Berlin zu verlassen und ins Umland abzuwandern und wie effektiv es MP-Security gelungen war, das zu verhindern. Alice Müller war gar nicht so sehr daran interessiert, zu erfahren, wie viele Menschen versucht hatten, sich in dieser Gegend illegal niederzulassen. Aber der Brief, den sie an die Geschäftsleitung geschickt hatte, führte nicht dazu, dass MP-Security seine Informationspolitik verändert hatte. Alice Müller wusste nicht, wie viele Mitarbeiter MP-Security beschäftigte, wie das Unternehmen es schaffte, die illegale Einwanderung zu unterbinden. Zwar gab es in der Broschüre ausführliche Beschreibungen all der technischen Hilfsmittel, die verhinderten, dass die Grenze zum Ressort durchlässig wurde, aber für Technik hatte sich Alice Müller noch nie besonders interessiert.
Schon seit vielen Jahren hatten die staatlichen Sicherheitsbehörden, Polizei und Armee, Teile ihrer Kompetenzen an Unternehmen wie MP-Security abgegeben, weil sie der Ansturm der Armutsflüchtlinge aus Asien und Afrika heillos überfordert hatte. Viele sahen darin eine Gefahr für die Demokratie, andere argumentierten, die Bedrohung gehe nicht von der Privatisierung staatlicher Leistungen, sondern von den Zuwanderern aus, dritte schließlich vertraten die Auffassung, dass die Demokratie eh abgeschafft gehöre, weil sie die neuen Probleme nicht adäquat zu lösen in der Lage war.
Es war interessant, festzustellen, fand Alice Müller, dass ein Mann wie Karl Sattler, dieser scheinbar glühende Verfechter des Sozialismus, in einem Ressort lebte, das durch eine private Sicherheitsfirma geschützt werden musste.
Hätte er nicht voller Hoffnung in die Zukunft schauen müssen? Immerhin bedeuteten die gewaltigen Flüchtlingsströme, die sich in den reichen Norden ergossen, eine ungeheure Herausforderung für das kapitalistische System. Diese Millionen von Menschen bedrohten nicht nur die sozialen Sicherungssysteme, denen die westlichen Demokratien es vor allem zu verdanken hatten, dass nicht auch sie schon längst Historie geworden waren, sie stellten auch eine gewaltige Herausforderung für die Exekutivorgane der Gesellschaften dar. Neunzig Prozent der Menschen, die die globalen klimatischen Veränderungen zwangen, auf die Reise zu gehen, waren arm. Sie waren das globale Proletariat, das nicht zuletzt deshalb alles verloren hatte, weil ein entfesselter Kapitalismus dazu geführt hatte, dass durch den Ausstoß von klimaschädlichen Emissionen die Erde nach und nach in ein Treibhaus verwandelt wurde. Das geschah immer noch. Zwar gab es Verpflichtungserklärungen der Industrienationen, dafür zu sorgen, dass alles getan wurde, um diesen Prozess aufzuhalten, doch schien der Klimawandel schon jenen Grad an Unumkehrbarkeit erreicht zu haben, bei dem alle noch so gut gemeinten Erklärungen nicht das Papier wert waren, auf dem sie geschrieben wurden.
All diese verheerenden Prozesse führten nicht dazu, dass die Menschen glaubten, das kapitalistische System sei nicht in der Lage, all diese Probleme zu lösen. Nein, die Entwicklungen auf diesem Planeten brachten es nicht mit sich, dass die Menschen ein Gefühl der Solidarität entwickelten, eine Einsicht in die Notwendigkeit, dass sie nur gemeinsam die Misere lösen konnten, in der sie steckten. Dass es vielleicht zu einer grundsätzlichen Umstrukturierung der Wirtschaft, des Verhältnisses von Arm und Reich kommen müsse. Das Gegenteil war der Fall. Die Staaten, die von den Heerscharen an Flüchtlingen heimgesucht wurden, flüchteten sich in einen neuen Nationalismus, der die Besonderheiten des eigenen Landes hervorzuheben versuchte. Die Reichen verteidigten ihre Besitzstände und verließen dabei nur zu häufig den Boden des Rechts.
Aber was hieß das heute schon: Recht? Natürlich lebten sie immer noch in einer Gesellschaft, in der die Gewaltenteilung konstitutiv war. Jeder Bürger dieser Demokratie hatte die Möglichkeit, im Schadensfall sein Recht vor Gericht einzuklagen. So sollte die Zivilgesellschaft funktionieren. De facto jedoch lebten Millionen Menschen außerhalb der Judikative, d. h., sie wurden zum Opfer derselben, aber sie hatten nicht die Möglichkeit, ihre verfassungsmäßig verbrieften Rechte auch durchzusetzen. Dazu zählten nicht nur die Einwanderer in den Erdteil-Quartern, nein, dazu gehörten auch Hunderttausende Menschen, die die Armut an den Rand der Gesellschaft gedrängt hatte. Alice Müller konnte sich nicht daran erinnern, dass der Fall des Mannes, der bei dem Versuch, auf ihr Grundstück zu kommen, erschossen worden war, je juristisch verfolgt worden wäre. Nie hatte sie einen Polizeibeamten zu Gesicht bekommen, der ihren Vater oder ihre Mutter ausgefragt hätte.
Nach einer knappen Stunde hatte Alice Müller ihr Ziel erreicht. Schon aus einiger Entfernung hatte sie das eindrucksvolle Anwesen Karl Sattlers gesehen. Die mächtige Villa mit ihren verschnörkelten Türmen erinnerte sie ein wenig an das Schloss Neuschwanstein, obwohl Sattlers Haus natürlich nicht im Entferntesten diese Dimensionen aufwies. Aber dieses Gebäude war ...- kitschig. Alice Müller fühlte ein leichtes Unbehagen in ihrem Magen, das sich immer einstellte, wenn die Gesetze der Kunst auf das Gröbste verletzt wurden.
Das schmiedeeiserne Tor öffnete sich lautlos, und Alice Müller setzte ihren Porsche neben einen mächtigen Toyota-Geländewagen, der wiederum neben einen BMW-Roadster stand. Aber das waren nicht die einzigen Fahrzeuge. Vor der Garage sah sie einen Lamborghini-Sportwagen mit mächtigen Heckspoilern. Für einen Moment dachte Alice Müller, dass sie ihr Ziel verfehlt hatte: Es konnte sich hier unmöglich um das Eigentum Karl Sattlers handeln, diesen glühenden Verfechter des Sozialismus, der Gleichheit und Brüderlichkeit, des Mannes, der die Enteignung des Grundbesitzes forderte. Unmöglich. Und dennoch: Als sie die Eingangstreppe hinaufging, feinster Carrara-Marmor, dessen Weiß in der Septembersonne strahlte, empfing sie eben jener Karl Sattler, den sie aus der Zeitungsredaktion kannte, mit einem strahlenden Lächeln.
„Guten Tag, Frau Müller“, begrüßte er sie. „Es freut mich sehr, dass sie hierhergefunden haben.“
Oje, noch so einer, dachte Alice Müller, denn ohne Zweifel gehörte Sattler zu den Männern, in deren Zellen die Gen-Nanos gearbeitet hatten. Alice Müller hatte auch Eber in Verdacht, sich einer derartigen Behandlung unterzogen zu haben. Aber in den USA war diese Methode, dem Leben noch ein paar Jährchen abzuringen, weitaus geläufiger als in Deutschland, und so stand sie staunend vor einem Mann, der auf die Neunzig zuging, doch eine Frische und Virilität ausstrahlte, die sie irritierte.
Alice Müller ergriff Sattlers ausgestreckte Hand, fühlte den festen Druck der Finger, sah in ein braungebranntes, ausgeruhtes Gesicht.
„Kommen Sie herein“, forderte er sie auf. „Bitte, hier entlang. Kaffee? Tee?“
„Tee, bitte“, sagte Alice Müller und folgte Sattler in dessen Arbeitszimmer.
„Schön haben Sie es hier“, sagte Alice Müller.
„Ja“, meinte Sattler, „hier lässt sich leben, ohne Zweifel.“
Alice Müller schaute auf einen See, über dessen Oberfläche kaum wahrnehmbar kleine Wellen liefen.
„Sie haben Fragen zum ersten – und vermeintlich einzigen – Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden, nicht wahr?“, fragte Sattler. „Diesem einzigartigen Experiment, das Leben der Menschen auf eine andere Grundlage zu stellen als die, die vom Kapitalismus vorgegeben wird.“
„Es lebt sich nicht schlecht im Kapitalismus“, bemerkte Alice Müller.
Sattler schaute sie an. Für einen kurzen Moment war er irritiert, so schien ihr, dann verzog sich sein Mund zu einem Lächeln.
„Ich kenne ihre Arbeiten, Frau Müller“, sagte Sattler, „sie sind klug, etwas zynisch, wie mir scheint, aber sehr durchdacht, ohne Zweifel. Sie fragen sich, wie ein alter Sozialist inmitten dieses ... Reichtums glücklich und zufrieden sein kann.“ Sattlers Stärke war es, Widersprüche aufzuzeigen und zu thematisieren. Gut, dass er dieses Prinzip auch auf seine eigenen Lebensverhältnisse anzuwenden verstand.
Alice Müller zuckte mit den Schultern. „Ob Sie als Kapitalist oder als Sozialist glücklich sind, ist mir offen gestanden einerlei“, sagte sie. „Ich bin nicht hier, um ihre Einstellungen an der Lebenswirklichkeit zu messen. Ich möchte etwas über die DDR erfahren, und da sie in diesem Staat gelebt haben, schienen Sie mir als Auskunftsperson geeignet.“
Alice Müller betrachtete den Mann, der 86 Jahre als sein musste, obwohl sein gesamtes Auftreten dieser Annahme zuwiderlief. Er bewegte sich leicht und geschmeidig, seine Haut war, wenn auch nicht faltenfrei, so doch ungewöhnlich glatt für einen ... Greis. Aber das war er nicht. Alice Müller fragte sich, ob sie auch zu diesen „Maßnahmen“ greifen würde, wenn sie die 60, 70 oder 80 überschritten haben oder ob sie sich dem natürlichen Alterungsprozess fügen würde.
„Sie sind 1950 geboren“, sagte sie.
„1949“, verbesserte sie Sattler, „am 8. Oktober, einen Tag nach Gründung der DDR.“
„Dann sind Sie jetzt 87 Jahre alt.“
Sattler strahlte. „Ja, erstaunlich nicht wahr!“
Er schaute ihr unverhohlen auf die Brüste, räusperte sich und sagte: „Wer hätte gedacht, dass Menschen in meinem Alter so ... jung sein können.“
Alice Müller hätte es nicht gewundert, wenn Sattler sich vor ihr auf den Kopf gestellt hätte, um unter Beweis zu stellen, dass er in erstklassiger körperlicher Verfassung war. Doch der Experte in Sachen Sozialismus setzte sich in einen tiefen Sessel, legte ein Bein über das andere und schaute sie an. „Was möchten Sie wissen, meine Liebe?“
Es drängte sie, sich zu diesem „meine Liebe“ zu äußern, es war entschieden zu intim, einerseits, andererseits ziemlich opahaft in seiner Attitüde, aber sie ließ ihn in dieser gönnerhaften Position. „Nun“, sagte Alice Müller, „da Sie im Gründungsjahr der DDR geboren sind, werden Sie mir kaum etwas über die Gefühle, über die Atmosphäre erzählen können, mit denen die Menschen damals dieser Staatsgründung entgegengesehen haben.“
„Da haben Sie Recht, meine Liebe“, sagte Sattler und schaute ihr wieder auf die Brust, „aber sehen sie, ich kenne diese Zeit aus den Berichten meiner Eltern, und sie ist noch sehr lebendig in mir, obwohl ich nicht persönlich involviert war, naja, noch nicht ... Die DDR, das war ... das sollte das bessere Deutschland werden, verstehen Sie?! Die Menschen hungerten ... nach Gerechtigkeit. Die Zeit des Nationalsozialismus hatte Verwerfungen hinterlassen, von denen Sie sich auch nicht annäherungsweise eine Vorstellung machen können. Das Land lag in Trümmern, die Städte waren verwüstet, aber was schlimmer als diese äußerlichen Verheerungen wog: die Seelen der Menschen, Frau Müller, waren zerstört. Es ist wohl nicht verfehlt, zu sagen, dass jede deutsche Familie getroffen war vom blinden Wüten des Nationalsozialismus. Eltern, die ihre Kinder im Krieg verloren hatten, Frauen, die ihre Männer nie mehr in die Arme schließen würden, weil sie gefallen oder in der Kriegsgefangenschaft umgekommen waren, Kinder, deren Eltern unter den Trümmern zerbombter Häuser begraben lagen. Millionen Tote, Frau Müller, Millionen ...“ Sattler schaute sie an, und zum ersten Mal hatte Alice Müller das Gefühl, dass dieser durch die Gen-Nanos in Form gebrachte Greis Abstand von seinem augenblicklichen Zustand nahm und mit großer Ernsthaftigkeit in eine Zeit eintauchte, die Alice Müller fern war.
„Es war das nackte Grauen“, fuhr Sattler fort. „Die Konzentrationslager, der Massenmord an den Juden, der Russlandfeldzug, der Bombenkrieg ... das nackte Grauen ...“ Sattler schüttelte den Kopf. „Aber“, sagte er, „der Hitler-Faschismus hatte einen Feind, der stärker war als er: die russische Armee, die Hitlers Wehrmacht in Stalingrad besiegte, auf breiter Front vorrückte und Berlin befreite ...“
„Die Amerikaner ...“, begann Alice Müller vorsichtig.
„Natürlich, natürlich“, sagte Sattler, „ohne die gewaltige Wirtschaftsmacht der Vereinigten Staaten hätte der Krieg vermutlich eine andere Wendung genommen, vermutlich ja ... Die freie Welt war sich einig im Kampf gegen den Nationalsozialismus, der die Deutschen mit seiner widerwärtigen Mischung aus Rassenkult und Herrenmenschenwahn in den Bann gezogen hatte. Doch bedenken Sie den gewaltigen Blutzoll, den die Menschen der UdSSR zu tragen hatten, und vergegenwärtigen Sie sich die Kraft, die ihnen aus dem Glauben an den Sozialismus zuwuchs, mit dem sie den einfallenden Truppen entgegentraten ...“
Sattler hatte sich aufgerichtet, in seinen Augen schimmerte ein Glanz, der Alice Müller verdächtig vorkam. Der Mann, so viel stand fest, bewegte sich auf dem Fundament eines geschlossenen Weltbildes, auch wenn er in einer verkitschten Schrumpfform des Schlosses Neuschwanstein lebte.
„Vielleicht war es auch nur die Angst vor Verhaftung, Deportation, die die russischen Soldaten vorwärtstrieb, Stalins Schergen ...“
„Ja, ja, Stalin ...“, sagte Sattler und lehnte sich zurück. „Das ist ein dunkles Kapitel, ohne Zweifel, ein sehr dunkles Kapitel in der Geschichte des sowjetischen Kommunismus, dennoch ist der Beitrag, den die russische Armee am Sieg gegen den Hitler-Faschismus hatte, nicht zu leugnen. Aber wir schweifen ab. Ihnen ging es um das Leben in der DDR, nicht um das Epochenereignis Zweiter Weltkrieg. Aber das eine ist ja ohne das andere überhaupt nicht zu verstehen. Sie können die DDR nicht begreifen ohne die Erfahrungen, die die Menschen mit diesem größenwahnsinnigen Diktator und seiner Herrscherclique gemacht haben.“ Sattler schloss die Augen.
„Meine Eltern waren Juden“, sagte er. „Um genau zu sein: Mein Vater war jüdischen Glaubens, meine Mutter eine Atheistin, die sich nichts aus Gott machte. Das behauptete sie zumindest. Meine Mutter wurde 1915 geboren, mein Vater 1910. Als Hitler 1933 an die Macht kam, war mein Vater 23, meine Mutter 18. Obwohl der Genozid an den Juden erst sehr viel später im Rahmen der so genannten Wannseekonferenz beschlossen wurde, war der Antisemitismus ein wesentlicher Eckpfeiler der nationalsozialistischen Ideologie, und das Urteil über das Leben meines Vaters war 1933 also schon mehr oder weniger gesprochen.“ Sattler blickte aus dem Fenster, hinaus auf den kleinen See, über den die letzten Schwalben sausten, bevor sie sich in den Süden aufmachen würden.
„Sie lebten beide in Berlin. Ja, sie lebten, in diesen irrsinnigen zwanziger Jahren, die voll der Hysterie waren und des Lebensrausches, der politischen Extreme, des künstlerischen Aufbruchs, des Versuchs, die Gewalt des Ersten Weltkrieges zu vergessen.
Mein Vater war der Sohn eines Optikers, der seine Geschäfte in Kreuzberg, am Kurfürstendamm und in Potsdam betrieb. Erfolgreich, sehr erfolgreich. Die Familie Sattler war wohlhabend, aber mein Vater zeigte wenig Neigung, in die Fußstapfen meines Großvaters zu treten und dessen Geschäfte zu übernehmen. Er wollte Musik studieren – und tat das dann auch. Er muss ein begnadeter Musiker gewesen sein – er spielte Violine – und hätten ihm die Nazis nicht ...“, hier stockte Sattler und schluckte, dann fuhr er fort, „hätten ihm die Nazis nicht die Finger gebrochen, dann ... ja, er hatte das Talent, ein ganz großer Geigenspieler zu werden.
Er lernte meine Mutter in einem Café kennen, in dem sie bediente. Sie kam aus armen Verhältnissen, und sie musste sich das Geld für ihr Studium verdienen. Es war Liebe auf den ersten Blick, sagte mein Vater immer wieder. So oft er von diesem Augenblick sprach, in dem er meine Mutter zum ersten Mal gesehen hatte, traten ihm Tränen der Rührung und Dankbarkeit in die Augen. Von dieser Stunde an, an dem er meiner Mutter in die Augen geschaut hatte, ging er jeden Tag in das Café in der Charlottenburger Knesebeckstraße und blieb so lange dort, bis das Mädchen, in das er sich verliebt hatte, Feierabend hatte. Er kümmerte sich nicht mehr um seine Violine, er saß voller Ungeduld zuhause bei den Eltern, er wollte nur eines, und da war er sich hundertprozentig sicher: dieses Mädchen mit ihren langen braunen Haaren und den mandelförmigen Augen, die ihm eine Tasse Mokka nach den anderen auf den Tisch stellte, in die Arme nehmen und sie fragen, ob sie seine Frau werden wollte.
Natürlich war meine Mutter schon längst auf diesen Jungen aufmerksam geworden, der ihr den Hof machte, auf dessen feingliedrige Finger, seine elegante Kleidung, sein höfliches, respektvolles Verhalten. Es war ihr klar, dass sie es hier offenbar mit einem jungen Mann aus gutem Haus, wie man so schön sagt, zu tun hatte. Und sie machte sich ein wenig Sorgen um seine Gesundheit, denn er trank im Verlaufe eines Nachmittages, den er mehr oder weniger damit verbrachte, sie anzuschauen, so viel Kaffee, dass es ihm notwendigerweise auf den Magen schlagen musste.
Es dauerte eine Weile, bis mein Vater den Mut fasste, das junge Fräulein, das Kunst studierte, zu fragen, ob sie mit ihm ausgehen wolle. Oh ja, er musste all seinen Mut zusammennehmen, aber, so berichtete er, erstens konnte er es sich nicht leisten, Tag für Tag literweise Mokka zu trinken, und zweitens verlor er die Geduld. Meine Mutter sagte Ja.
Sie müssen sich vorstellen: Es war das Jahr 1933! Extreme Linke und extreme Rechte schlugen sich die Köpfe blutig, die politische Lage war alles andere als sicher, und es würde nur noch wenige Monate dauern, bis Hitlers NSDAP ihre Gleichschaltungspolitik in die Tat umsetzen würde.
Aber das schien die beiden jungen Menschen nicht sonderlich zu kümmern. Sie waren bis über beide Ohren verliebt und kannten nur sich selbst. Politik schien für sie auf einem anderen Planeten stattzufinden. Meine Mutter sagte immer, dass mein Vater sie mit seiner Musik verzaubert habe. Er war ein so begnadeter Violinist, dass sie ihm einfach nicht habe widerstehen können ...“ Sattler lachte, dann fuhr er fort: „Sie müssen wissen, dass meine Mutter eine sehr starke Frau war, die, so schien es mir, es stets ein wenig bedauert hat, dass sie ihre Unabhängigkeit schon in so jungen Jahren aufgab. Ich will damit nicht sagen, dass sie meinen Vater nicht geliebt hat, im Gegenteil, aber es war immer ein wenig Schmerz, dass sie ihr freies Künstlerleben nicht hatte leben können. Deshalb sagte sie, dass es seine Musik gewesen sei, die sie verzaubert hatte. Es musste unbedingt ein Zauber sein, der sie bannte ... ach, ja, meine Mutter ...
Meinem Großvater gefiel diese Beziehung nicht. Nicht, weil er meine Mutter nicht leiden konnte, im Gegenteil, aber er ahnte, dass die jüdische Bevölkerung schweren Zeiten entgegenging, dass mit Hitlers Machtergreifung eine neue unheilvolle Ära angebrochen war.“ Sattler schloss die Augen. „Nun, um die Erzählung abzukürzen: Mein Großvater und meine Großmutter wurden in Auschwitz ermordet. Mein Vater überlebte das Vernichtungslager. Meine Mutter erlebte das Ende des Krieges in Berlin, unfähig zu glauben, dass sie den Mann, den sie liebte, je wiedersehen würde. Doch dann stand er eines Tages vor ihrer Tür, ein Mann mit verkrüppelten Fingern, abgemagert zu einem Skelett, der Hölle entronnen, ja, der Hölle ...“ Sattler schüttelte den Kopf. „Der Krieg war vorbei, das Tausendjährige Reich, es hatte nur zwölf Jahre gewährt und annähernd fünfzig Millionen Menschen das Leben gekostet. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn Hitler diesen Krieg gewonnen hätte, oder wenn es ihm gelungen wäre, atomare Sprengköpfe zu entwickeln. Was für eine grauenvolle Vorstellung ... Aber all das ist nicht geschehen“, sagte Sattler. „Wir leben in einer Zeit, die mit ganz neuen Herausforderungen zu kämpfen hat, nicht wahr?“
Alice Müller schaute ihn an und schwieg.
„Haben wir Antworten auf diese Herausforderungen?“, fragte Sattler. „Ich befürchte nicht“, gab er sich selbst zur Antwort. „Der Kapitalismus kann diese Probleme nicht lösen, unmöglich, ganz unmöglich ...
Wir zerstören unseren Planeten. Nein, besser sollte ich sagen: Wir verändern ihn. Aber diese Veränderungen haben für Millionen von Menschen katastrophale Konsequenzen. Von den anderen Lebensformen, die die Evolution schließlich auch noch hervorgebracht hat, will ich gar nicht reden. Wieso ist das so?“ fragte Sattler. „Wieso verhalten wir uns, als ob es kein Morgen geben würde?“ Er schaute Alice Müller fragend an.
„Es ist die Gier“, sagte Sattler. „Die Gier, meine Liebe, die uns danach trachten lässt, immer mehr haben zu wollen, mehr, als wir eigentlich brauchen.“ Alice Müller dachte an den stattlichen Fuhrpark vor der Tür. „Der Kapitalismus, und Sie wissen, dass das sein eigentliches Erfolgsrezept ist, hat es immer verstanden, diese Gier auszunutzen. Erfolg, Besitz, Macht, der Wunsch, Dinge zu besitzen, Geld vor allem, Geld, Geld und noch einmal Geld ... Wir schlachten die Erde aus, wir entreißen ihr Kohle und Edelmetalle, wir pumpen Erdöl aus den Tiefen des Meeres, wir beuten ein Erdgasfeld nach dem anderen aus und schieben dabei alles zur Seite, was uns im Weg steht. Natürlich: Das Bewusstsein darüber, dass wir nicht allein sind auf diesem Planeten, hat in den vergangenen Jahrzehnten sehr zugenommen, keine Frage. Aber seien wir ehrlich: Erfolgreich sind wir nicht auf unserem Weg. Menschen verhungern und verdursten. Die Ernten verdorren unter einer unbarmherzigen Sonne, die südliche Erdkugel scheint sich in eine einzige Wüstenei zu verwandeln. Aber wie reagieren wir auf all das?“ Wieder schwieg Sattler in Erwartung einer Antwort. Doch Alice Müller verweigerte sie ihm.
„Wir machen weiter wie bisher“, sagte Sattler. „Die großen multinationalen Konzerne produzieren und verkaufen ihre Produkte wie gehabt. Natürlich, sie haben sich angepasst. Sie stellen nun Sonnenkollektoren her, die Energie erzeugen. Sie haben Automobile entwickelt, die mit einem Viertel des Benzins auskommen, das Fahrzeuge noch vor zwanzig Jahren verbraucht haben. Ja, die Automobilindustrie hat es sogar geschafft, Elektromotoren zu entwickeln, die eine dem Benzinmotor vergleichbare Leistung aufweisen. Doch letztlich geht es nach wie vor darum, zu produzieren und zu verkaufen, damit Unternehmen Profite maximieren können. Das ist es. Der Mensch, meine Liebe, ist ein Konsument. Das ist die Gleichung des Kapitalismus, die allen humanistischen Idealen Hohn spricht: Mensch gleich Produzent gleich Konsument.
Aber“, sagte Sattler und hob seine Stimme, „es ist noch schlimmer. Überall dort, wo diese Gleichung nicht funktioniert, zählt der Mensch nicht. Er produziert nicht? Dann kann er auch verhungern. Er konsumiert nicht? Wenden wir uns ab. Klingt das hart? Sie kommen aus einer Industriellenfamilie, Frau Müller, Sie kennen die Spielregeln. Möchten Sie noch Tee?“
„Nein, vielen Dank“, sagte Alice Müller. Sie hatte nicht die geringste Lust, auf Sattlers Ausführungen kommentierend einzugehen. Warum auch? Der Mann saß im goldenen Käfig und betrachtete die Welt, die er als eine kapitalistisch böse und verdorbene bestimmt hatte. Was sollte sie dazu sagen? Sie fand es immer ärgerlich, dass jemand, der so offensichtlich mit allen Gütern dieser Welt gesegnet war, das in Grund und Boden kritisierte, was ihm den Wohlstand bescherte. Sie hatte zwar keine Ahnung, was das genau war, aber dass Sattler ein wohlhabender Mensch war, daran konnte nun nicht der geringste Zweifel bestehen. Sie ärgerte sich, dass sie sich nie intensiver mit diesem Mann beschäftigte hatte, den alle in der Redaktion nur den „roten Sattler“ genannt hatten. Sie hatte ihn sich immer vorgestellt als einen fundamentalistischen Sozialisten, der in einer Ein-Zimmer-Wohnung lebte, die vollgestopft war mit Büchern von Marx, Engels und Lenin, aus denen er seine beißenden Kommentare zu den gegenwärtigen Zuständen im Land extrahierte. Dass dieses Bild nun überhaupt nicht der Lebenswirklichkeit dieses Mannes entsprach, erstaunte Alice Müller noch immer. Sie hätte einfach besser recherchieren müssen.
„Aber Sie sind nicht gekommen, um sich die Kritik eines alten Mannes an den gegenwärtigen Zuständen anzuhören, nicht wahr, Sie wollen etwas über die Deutsche Demokratische Republik erfahren. Darf ich Sie fragen, worin dieses Interesse begründet ist?“
Alice Müller zögerte einen Augenblick. Dann sagte sie: „Wie Sie wissen, schreibe ich über Kunst und Kultur. Ich interessiere mich für die bildende Kunst der DDR ... im weitesten Sinne. Ich ziehe es bei meinen Recherchen immer vor, meine Informationen nicht ausschließlich aus dem Netz oder aus Büchern zu beziehen. Das lebendige Gegenüber, der Zeitzeuge, wenn Sie so wollen, ist es, der mich in meiner Arbeit am meisten inspiriert.“
Sattler hob eine Augenbraue. „Ja, ich kenne Ihre Reportagen, Frau Müller. Sie sind eine ausgezeichnete Journalistin mit sehr viel Sprachgefühl. Ja, ich möchte sagen, dass viele Ihrer Texte auf hohem literarischem Niveau angesiedelt sind.
Dass Sie über die bildende Kunst in der DDR schreiben möchten, freut mich sehr, denn ich erwähnte ja bereits, dass meine Mutter Kunst studierte. Ja, sie liebte die Malerei, und es ist wohl richtig, zu sagen, dass sie ihr während der schlimmen Jahre des Krieges, den sie in Berlin erlebte, das Leben gerettet hat. Der grauenhaften Ungewissheit, die sie in Bezug auf das Schicksal meines Vaters durchleiden musste, der Angst, wie sie es einmal ausgedrückt hat, die Hoffnung zu verlieren, dass er noch lebte, begegnete sie mit der Malerei. Sie zeichnete und malte alles, was sie sah. Es war nicht nur der Wunsch, sich künstlerisch auszudrücken, sie benutzte das Zeichnen und Malen als Therapeutikum. Vieles von dem, was Sie hier in dem Zimmer sehen, stammt von ihr.“
Alice Müller waren die unzähligen Zeichnungen in Bleistift, Kohle, Tusche gleich aufgefallen, als sie das Zimmer betrat. Es war eine Orgie in Schwarz und Weiß, Stadtlandschaften, Porträts, Stillleben. Sie versuchte sich zu erinnern, aber eine Malerin, die den Namen Sattler trug, war ihr nicht geläufig.
„Gegen Ende des Krieges“, sagte Sattler, „benutzte sie sogar Stücke von Holz- oder Steinkohle, um sich auszudrücken. Das müssen Sie sich einmal vorstellen! Die Menschen waren natürlich mit ganz anderem beschäftigt, als dafür Sorge zu tragen, dass Künstler ihre Zeichen- und Malutensilien erhielten. Wen interessierte das denn, wenn es um das nackte Überleben ging? Aber auch der Umstand, dass sie mit Kohle zu zeichnen versuchte, hätte ihr zum Übel gereichen können, denn bei der katastrophalen Versorgungssituation hatte die Kohle im Ofen zu landen, damit die Menschen nicht erfroren.“ Sattler schüttelte wieder den Kopf. „Verstehen Sie, aus welchen Höllen sich die Menschen 1945 befreiten? Weder Sie noch ich sind in der Lage, das Grauen des Lebens in einem Konzentrationslager nachzuvollziehen. Wir wissen nichts von der Angst, die Menschen erleiden, wenn ein Bombenregen über sie niedergeht und sie in Kellern Schutz suchen. Wir hatten das Glück, nie einen Krieg durchleiden zu müssen.“ Sattler schaute sie aus klaren, blauen Augen an. „Es war die Erinnerung an dieses Leid, diesen Schmerz, diese unglaublichen Verluste an Menschenleben, aber auch an den Glauben an das Gute im Menschen, aus denen der Schwur geschmiedet war: Nie wieder! Nie wieder Krieg! Nie wieder Rassenhass und Intoleranz!
Wie war all das möglich gewesen? Wie konnte eine Kulturnation wie Deutschland einem Teufel wie Hitler in die Hände fallen?“ Sattler schüttelte abermals den Kopf und blickte nachdenklich auf seine gepflegten Hände. „Wie war es möglich“, fuhr er fort, „dass Millionen junger Männer in diesen irrsinnigen Krieg zogen, ja, die Hoffnung hegten, die ganze Welt erobern zu können? Und wie“, und hier wurde seine Stimme ganz leise, „wie war es möglich, dass annähernd sechs Millionen Menschen in Konzentrationslagern umgebracht wurden?“
Natürlich erwartete Sattler keine Antwort. Er hatte Jahre damit zugebracht, über diese Warum-Frage zu brüten, er hatte ganze Bibliotheken auf der Suche nach einer Antwort verschlungen. Er hatte die Ausführungen von Psychologen nachzuvollziehen versucht, die das Böse als einen nicht ausrottbaren Bestandteil der menschlichen Psyche verstanden. Er hatte sich mit Politologen, Soziologen und Historikern beschäftigt, die Aufstieg und Sieg des Nationalsozialismus nach Maßgabe der wissenschaftlichen Methoden ihrer jeweiligen Fächer aufbereiteten. Er hatte nachzuvollziehen versucht, welche religiösen Implikationen zu beachten waren. Er kannte die sozialistische Interpretation dessen, was Faschismus bedeutete, auswendig. Ihm war einsichtig, dass der Rassenhass auf die Juden seit Jahrhunderten ein fester Bestandteil der europäischen Kulturen gewesen war, den die Nazis nur aufgreifen und entsprechend ihrer Ideologie instrumentalisieren mussten. Aber war das eine Erklärung dafür, dass Millionen Menschen vergast werden konnten? Was sollte das für einen Sinn haben, Frauen, Kinder, Greise auf diese Art und Weise umzubringen? Er bekam Antworten, ja, deren Rationalität er nachvollziehen konnte. Selbst die sachliche Darstellung der – so schien ihm – vollkommenen Irrationalität der menschlichen Psyche leuchtete ihm ein und gab ihm für wenige Stunden ein Erklärungsmuster an die Hand, dem er zustimmen konnte. Doch schon am nächsten Tag waren die Zweifel wieder da, dieses unauslotbare Mysterium, das für ihn der Holocaust darstellte. Oder sollte er sagen: das der Mensch darstellte?
Die Familie Sattler war beinahe zur Gänze von den Nazis umgebracht worden. Sein Großvater hatte vier Geschwister, drei Brüder und eine Schwester, die in den Niederlanden gelebt hatte, bis Hitler seinen Arm nach dem Nachbarland ausgestreckt hatte. Zwei der Brüder lebten mit ihren Familien in Berlin, ein Dritter hatte sich in Paris niedergelassen. Insgesamt zählte die Familie Sattler, d. h. die Urgroßeltern, der Großvater und dessen Geschwister nebst Gatten, Gattinnen und Kindern neunundzwanzig Mitglieder: die Urgroßeltern, Sattlers Großvater und seine Frau, aus deren Ehe sein Vater und dessen Schwester hervorgegangen waren, daneben die niederländische Verwandten – Vater, Mutter, zwei Kinder, die Berliner Onkel – alle verheiratet, zusammen elf Kinder, der Bruder von Sattlers Großvater in Paris – verheiratet, zwei Kinder.
Sie alle wurden umgebracht.
Vergast. Erschlagen. Erschossen.
Dass Sattler lebte, hatte er mehreren glücklichen Umständen zu verdanken: Erstens war sein Vater das jüngste von fünf Kindern. Zwar war er zu dem Zeitpunkt, als er seine Frau traf, durchaus schon im heiratsfähigen Alter, aber sie konnten sich nicht zu diesem Schritt entschließen. Aus guten Gründen, denn Sattlers Vater war hellsichtig genug, zu erkennen, dass eine Heirat mit einer Christin auch diese in Gefahr bringen würde. Zweitens überlebte sein Vater die Hölle von Auschwitz-Birkenau. Wie oft hatte Sattler nachts wachgelegen und über diesen Umstand nachgedacht: Sein Vater war der Einzige aus dieser Familie, der überlebt hatte! Von seinen Geschwistern, von seinen Eltern war nichts geblieben, gar nichts. Die Nazis hatten diese Menschen nicht nur in einen Viehwagon gesteckt, sie nach Auschwitz-Birkenau transportiert und dort umgebracht, sie hatten es geschafft, jedwede Möglichkeit des Erinnerns zu vernichten. Wären diese Mörder nicht gestoppt worden, sie hätten ihre Ankündigung erbarmungslos wahrgemacht und jeden Juden in Europa umgebracht. All seine Vorfahren lebten lediglich in der Erinnerung seines Vaters, und er wurde nicht müde, immer wieder von ihnen zu erzählen, sie zu beschreiben, die kleinste erinnerbare Eigenheit zu erwähnen, die ihm einfiel, damit seine Kinder diese Menschen in ihrem Geiste und in ihrem Herzen bewahrten.
Drittens schließlich verdankte Sattler sein Dasein der Tatsache, dass seine Eltern überhaupt den Entschluss gefasst hatten, Nachwuchs zu zeugen, was, wie er fand, nach dem Grauen, das beide erlitten hatten, durchaus nicht selbstverständlich war. Auch das war etwas, worüber er oft und lange nachgedacht hatte, denn er konnte es nicht wirklich verstehen. Sein Vater hatte selten über das gesprochen, was er in Auschwitz erlebt hatte. Doch das Wenige reichte Sattler, dass ihm jedes Mal das nackte Grauen überkam, und er sich die Frage stellte, wie sein Vater überhaupt noch Vertrauen haben konnte zu anderen Menschen, ja, zu der conditio humana an sich. Wenn der Mensch die Bestie war, als die er sich dargestellt hatte, welchen Sinn sollte es haben, Leben zu zeugen?
Was war der Mensch? Was?
Ohne Zweifel war der Holocaust für Sattler das zentrale Ereignis der abendländischen Geschichte, nach dem nichts mehr so sein konnte wie zuvor. Die Menschen hatten sich immer wieder mit großer Leidenschaft und zu Zehntausenden und Millionen umgebracht. Menschen verstanden sich auf das Kriegshandwerk. Der Holocaust indes war singulär. Es war, als ob ein finsterer Schleier sich über die Seelen gelegt hätte, als ob alles Gute sich in ein anderes Universum geflüchtet hätte. Aber das waren nur Bilder, war nur metaphysische Spekulation, von der Sattler nichts hielt. Er versuchte sich an die Fakten zu halten, und stellte doch immer wieder fest, dass er Antworten in dem großen Unbekannten suchte, in Gott. Aber Gott schwieg.
War es dieses Schweigen, was dafür verantwortlich war, dass Sattler der Letzte seiner Familie war? Ja, mit seinem Tod würde die Reihe derer, die ihre Sattler-Gene durch die Jahrhunderte von einer Generation an die nächste weitergegeben hatten, endgültig aufhören zu sein. Er war im Verlaufe seines Lebens dreimal verheiratet gewesen, aber aus keiner dieser Beziehungen waren Nachkommen entstanden. Er wollte es nicht. Er war, ganz im Gegensatz zu seinem Vater, von der Bösartigkeit des Menschen überzeugt. Er hatte zeit seines Lebens gelitten. Ja, gelitten – an der unverbesserlichen menschlichen Natur, die nichts aus der Vergangenheit gelernt zu haben schien. Die immer wieder neue Kriege führte, Menschen meuchelte zu Hunderttausenden, immer wieder Konzentrationslager errichtete und von einer besseren Zukunft schier nichts wissen wollte. Er war ein Pessimist, obwohl er in all seinen Artikeln und Büchern versuchte, genau die gegenteilige Position zu vertreten. Nun, wollte er dem Buddha Glauben schenken, der Leiden als das Grundsubstrat allen Lebens betrachtete, dann bewegte er sich innerhalb des Üblichen. Aber er konnte sich nicht vorstellen, dass Buddha ein Leiden vor Augen hatte, das dem Horror nazistischer Vernichtungslager entsprach. Er konnte es nicht glauben, dass der Buddha das Leiden der Menschen im Sinn hatte, die Opfer der medizinischen Versuche eines Josef Mengele geworden waren.
Aber wie, hatte sich Sattler immer wieder gefragt, konnte er die Verantwortung dafür übernehmen, Leben in die Welt zu setzen, dass tendenziell von dem gleichen Horror bedroht war? Es gab keine Garantie dafür, dass nicht auch in diesem Land ein neuer Hitler, ein neuer Mengele auftauchten, die sich berufen fühlten, abermalig ein tausendjähriges Reich ins Leben zu rufen.
Konnte es nicht jeden Tag geschehen? Die Situation schrie doch geradezu danach, autoritäre Strukturen zu etablieren. Die rechten Parteien in allen europäischen Ländern hatten in den vergangenen Jahren ihren Stimmanteil enorm erweitern können. Aber es fehlte ihnen allen eine charismatische Führerpersönlichkeit. Vielleicht waren die Menschen aber mittlerweile auch politisch so weit gereift, dass ihnen klar war, dass komplexe Probleme, wie der Klimawandel und damit verbunden die globale Völkerwanderung, Prozesse waren, die irreversibel waren – wenn man zeitlich in menschlichen Kategorien dachte.
„Ich muss gestehen, dass mir ihre Mutter als Künstlerin nicht bekannt ist“, sagte Alice Müller.
„Das wundert mich nicht, Frau Müller“, sagte Sattler. „Sehen Sie, die Malerei war für meine Mutter das Medium, das ihr das Überleben gesichert hat. Während um sie her die Bomben niederfielen, die die alliierten Kampfflugzeuge auf Berlin abwarfen, Häuser einstürzten, Hitler die letzten Reserven mobilisierte, damit noch mehr Menschen in diesem irrsinnigen Krieg umgebracht werden konnten, zeichnete sie. Sie füllte geradezu manisch Blatt auf Blatt. Ich habe die Exponate nie gezählt, die den Krieg unbeschadet überstanden haben, aber es müssen mehrere Tausend sein.“
„Hat sie nie daran gedacht, die Bilder auszustellen?“, fragte Alice Müller.
„Nein“, antwortete Sattler, „das ist ihr nie in den Sinn gekommen. Es ist eigentümlich, aber nachdem der Krieg beendet war, hat sie nie mehr eine Zeichnung angefertigt. Nicht eine.“
Alice Müller schaute ihn verständnislos an. Sie hatte das Gefühl, das es einen künstlerischen Schatz zu heben gab. Sattler sprach von Hunderten von Exponaten, die noch nie das Licht der Öffentlichkeit erblickt hatten. Die Zeichnungen, die sie an den Wänden sah, waren düster, doch von außergewöhnlicher Expressivität. Sattlers Mutter verstand ihr Handwerk, ohne Zweifel.
„Denken Sie erst gar nicht daran“, sagte Sattler.
„Wie bitte?“
„Die Bilder meiner Mutter liegen sicher verwahrt in einem großen, in einem sehr großen Schließfach. Solange ich lebe, werden sie dort bleiben. Was nach meinem Tod damit geschieht, ist genau festgelegt. Also – denken Sie nicht mehr darüber nach.“
„Und ihre Mutter hat sich nach dem Krieg jeder künstlerischen Arbeit enthalten?“
„Ja“, sagte Sattler. „Sie hat all ihre Energie, wenn Sie so wollen, in den Aufbau des Sozialismus gelegt. Sie sah in der DDR die einmalige historische Chance, eine neue, eine bessere Gesellschaft zu errichten, eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Ungleichheit, ohne Rassenhass und ohne Krieg. Sie wurde eine glühende Verfechterin des Sozialismus, er war ihr Gottvater, Sohn und Heiliger Geist. Ich sagte bereits, dass meine Mutter im katholischen Glauben erzogen worden ist. Mag sein, dass ihr unbedingtes Eintreten für diesen Staat, dem seine Mitbürger, wie wir heute wissen, durchaus mit Skepsis hätte entgegentreten können, ihrer religiösen Erziehung geschuldet war.
Katholiken können außergewöhnlich fanatisch sein. Und wenn sie mit ihrem Glauben brechen, nun, dann verlagert sich dieser Fanatismus eben auf das Feld, auf dem sie gerade tätig sind. Bei meiner Mutter war es der Sozialismus. Vielleicht verteidigte sie mit dieser außergewöhnlichen Glaubenswut auch nur meinen Vater. Sie hatte ihm während der Zeit des Nationalsozialismus nicht helfen können. Wie auch? Aber nun tat sie alles, damit Intoleranz, Rassenwahn, Hass und Niedertracht niemals mehr Gewalt über die Menschen gewinnen konnten. Niemals mehr sollten Menschen, die eine andere Hautfarbe besaßen, einer anderen Religion angehörten, eine andere politische Auffassung vertraten, zu Opfern werden. Niemals mehr sollte gegen meinen Vater Gewalt ausgeübt werden.“
Sattler schwieg eine Weile. „Der Sozialismus“, fuhr er fort, „ist eine Heilslehre. Sie verspricht den Menschen das Himmelreich auf Erden. Natürlich ist der Sozialismus damit auch eine Religion, aber eine solche, die sich dem Säkularismus der Neuzeit verschrieben hat. Im Grunde folgt auch der Nationalsozialismus dieser Tendenz“, sinnierte Sattler weiter, „nur speist sich dessen Ideologie noch aus anderen Quellen. Die Nazis zogen ihren Impetus aus dem Hass: auf die Juden, auf die Kommunisten, die Sozialdemokraten, die Homosexuellen, die Sinti und Roma, auf alles, was der durch sie definierten Norm zuwiderlief. Die Sozialisten waren klüger: Sie definierten ihre Ziele positiv, nein, besser sollte ich sagen: Sie definierten ihre Position zum Gegenüber freundlicher. Alle Menschen werden Brüder! Alle Menschen sind gleich! Alle haben die gleichen Möglichkeiten! Doch natürlich benötigt das Gute, als das sich der Sozialismus definierte, auch ein Gegenüber, das das weniger Gute reguliert. Die Sozialisten fanden es im Kapitalismus. Der Kapitalismus produziert die Ungleichheit, schafft Reichtum und Armut. Das Kapital beutet die Arbeiterklasse aus, die sich das aber ab einer bestimmten historischen Entwicklungsstufe nicht mehr gefallen lässt, eine Revolution vom Zaune bricht, die die Verhältnisse zum Tanzen bringt und schließlich die klassenlose Gesellschaft initiiert.
Der DDR war natürlich keine solche Revolution vorausgegangen. Insofern war die reine Lehre hier nicht ganz verwirklicht worden. Der große Bruder Sowjetunion hatte den Sozialismus im Marschgepäck seiner Soldaten, und die ostdeutsche Bevölkerung, die keine Revolution gegen das Kapital durchfochten hatte, erhielt das Geschenk einer neuen Gesellschaftsordnung. Die Drecksarbeit hatte gewissermaßen die russische Armee geleistet. Aber auch die Oktoberrevolution in Russland folgte 1917 ja nicht wirklich den Gesetzen des historischen Materialismus.
Doch ich schweife ab“, sagte Sattler. „Mein Vater lebte. Dafür war er dankbar, ohne Zweifel. Und doch hatte er alles verloren: Seine Familie war von den Nazis in die Gaskammern getrieben worden, jeder Finger seiner Hand war mehrmals gebrochen, sodass er nie wieder Violine spielen würde. Er hatte in Auschwitz den Menschen als Bestie erlebt, als brutalen, mordenden Teufel, der jede nur denkbare Grausamkeit zu begehen in der Lage war. Woher nimmt ein Mensch nach all diesen Erfahrungen die Kraft, weiterzuleben? Ich habe diese Frage nie beantworten können. Tatsächlich war mein Vater ein sehr ruhiger, stiller Mann, sehr reflektiert, taktvoll, höflich, nie aufbrausend. Manchmal beobachtete ich ihn, wie er in seinem Lieblingssessel saß und auf seine verkrüppelten Finger hinabschaute, und in seinen Augen lag eine Traurigkeit, wie ich sie nicht mit Worten beschreiben kann ...“ Sattler stockte, griff in seine Hosentasche und wischte sich die Augenwinkel mit einem Taschentuch.
„Ein derartiges Leid zu erfahren und dennoch weiterzuleben ... Es gab ja nicht einmal einen Ort, an dem er seinen Vater und seine Mutter betrauern konnte. Es gab niemanden aus seiner Familie, der dieses Massaker überlebt hatte. Die Nazis hatten, wenn sie so wollen, ganze Arbeit geleistet.
Aber es war ganz bestimmt nicht der Glaube an den Sozialismus, der meinem Vater Kraft gab. Nein, sicherlich nicht. Er hatte zu tief geschaut, er hatte den Menschen in seiner widerwärtigsten, teuflischsten Fassung erfahren – ich wähle den Superlativ hier bewusst -, als dass er noch Zutrauen in ein von Menschen gemachtes staatliches Gebilde haben konnte. Es waren ja immer noch die gleichen Menschen, die durch die Straßen Berlins liefen. Vor wenigen Monaten noch hatten sie dem Führer zugejubelt, und nun sollten sie Genossen werden, die dem großen Vorsitzenden Stalin ihre Referenz erwiesen. Und der Antisemitismus? War der plötzlich verschwunden? Wie denn?
Nein, mein Vater gab sich keinerlei Illusionen hin. Das Tier, das der Mensch war, war er auch weiterhin, gewaltbereit, zu allem Bösem fähig. Die Nachkriegsgeschichte, die ja nur eine Vorkriegsgeschichte war, gab ihm alles Recht zu diesen Annahmen. Die Menschen haben es auch weiterhin verstanden, sich auf das Vortrefflichste abzuschlachten.“ Sattler schüttelte den Kopf.
„Sie gewinnen vielleicht den Eindruck, dass ich ein Kulturpessimist bin, ja? Obwohl Ihnen aus meinen Artikeln doch ein ganz anderer Geist entgegengeweht ist? Einer, der auszudrücken versuchte, dass die Menschen nur überleben können, wenn sich der absurde Gegensatz zwischen Reich und Arm endlich auflöst. Wenn es gelingt, den Reichtum dieser Erde allen Menschen zugänglich zu machen. Wenn wir es schaffen, die Natur zu schützen ... – wenn, wenn, wenn ... Ja, und dass das einzige Gesellschaftsmodell, das dies leisten kann, das sozialistische ist. Ein Gegensatz? Nein, denn ein Mensch mit meiner Geschichte muss beides sein: ein Pessimist aus Vorsicht und ein Optimist aus Vertrauen in die Zukunft.“